: Wenn die Welt im Lokalen aufschlägt
FLANIEREN Zu seinem „Lifelong Learning“ gehört für Helmut Höge neben dem Lesen vor allem das Ausgehen. Dabei hat er Orte kennen gelernt, die meist übersehen, längst vergessen oder gar verschwunden sind
Die Kulturspelunke Rumbalotte continua gilt als neues Fischbüro. Die Raucherkneipe in der Metzer Straße 9 – im Herzen Prenzlauer Bergs – dient täglich ab 15 Uhr als Hort der Erholung und Arbeit. Abends gibt es eine halboffene Bühne, mit vielen Überraschungsperformern (Foto) und ohne Publikum.
VON HELMUT HÖGE
Zwar macht einen das Überangebot an Ausgeh-Möglichkeiten und Hingeh-Veranstaltungen in Berlin seit der Hauptstadtwerdung mitunter schlecht gelaunt, auch weil selbst viele der einst eher abseitigen Locations inzwischen von Touristen überrannt werden, dennoch ist das allabendliche Nosing-Around in den „Problembezirken“ und „-Kneipen“ für einen soziologischen Feldforscher und Lokaljournalisten noch die bequemste Methode der Wahrheitsfindung. Selbst Arbeitslose, die an Biertheken abhängen, kommen dort erwiesenermaßen schneller auf gute Ideen, als wenn sie sich schon morgens vorn Fernseher hocken.
Vor 89 zog es mich oft ins Kreuzberger Fischbüro: eine ehemalige Schusterei, in der es weder Publikum noch Performer gab – dennoch ein Programm. So erzählte der Künstler Kaethe B. dort einmal am Rednerpult, warum er welchen Namen in sein Adressbuch eintrug, und Sabine Vogel rekapitulierte die Herkunftsgeschichte ihrer Second- und Third-Hand-Klamotten, die sie gerade trug.
Aus dem Fischbüro-Übungskeller kroch in der Wende die Love-Parade ans Tageslicht – und das „Büro“ verwaiste. Seit 2011 gibt es stattdessen im Osten die Kulturspelunke Rumbalotte (1), in der, anders als bei den ganzen neuen Lesebühnen, Publikum und Performer ebenfalls nahezu identisch sind.
Lokale Schwerpunkte
Als teilnehmender Beobachter hat man keine „Stammkneipe“, man bemüht sich vielmehr, irgendwann eine Karte des Großraums Berlin im Maßstab 1:1 im Kopf zu haben. Also alles und alle zu kennen. Aus Bequemlichkeit fällt dann aber doch eine Datschen-Party in Tegel oder eine Rinder-Ausstellung im Schloss Neuhardenberg aus, während ein Shuttleservice zur Festung Küstrin, wo bei Wein und Würstchen Friedrichs II. gedacht wird, hochwillkommen ist.
Manchmal bilden sich lokale Schwerpunkte heraus: der Wedding zum Beispiel. Erst interessiert das Afrikanische Viertel (2): Warum wollen alle hier lebenden Kameruner am liebsten in der Kameruner Straße wohnen? Dann: Wie konnte sich rund um das Café „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ am Leopoldplatz eine alternative Szene etablieren? Wo sind all die Weddinger Thai-Puffs hin (man sprach früher vom „Gelben Wedding“, inzwischen ist sogar das dortige Thai-Kloster verschwunden)? Und wieso gab es dort dann so viele mongolische Treffpunkte – wo sind die nun alle hin?
Das Ausgehen gilt in Berlin nicht nur dem plötzlich aufgetauchten Neuen, sondern auch dem verschwundenen Alten. Ganz extrem war das im Industrie und Arbeiterviertel Oberschöneweide (3), das sich nun – entleert – mit Künstlern und Studenten füllt.
Das verschwundene Alte
Neulich gingen wir in Zehlendorf aus, wo die Klingelschilder alle keine Namen haben: Erst ins Brücke-Museum und dann ins Café Roseneck (4), wo sich sonntags die Boutiquenbesitzerinnen und Immobilienhändler treffen. Als die Torte kam, meinte Stefanie: „Jetzt fehlt nur noch Rolf Eden!“ Und da kam er auch schon. Uns schien, dass man dort einen Tisch für ihn reserviert. So schien es auch mit Eberhard Diepgen in den „Wannsee-Terrassen“ gewesen zu sein – bis diese abbrannten. Er traf sich dort immer mit seiner Mutter. Wie so viele andere ältere Erwachsene mit ihren Eltern auch. Sie hatten sich meist nicht viel zu sagen – saßen oft stumm nebeneinander und konzentrierten sich auf den Sonnenuntergang über Kladow.
Yoga und Rauchen
Ähnlich schweigsam geht es im Ausflugsziel Buddhistisches Haus (5) in Frohnau zu. Hier meditieren ältere Frauen in wallenden Gewändern oder flüstern mit asiatischen Mönchen. Kornel Miglus, dessen Polnisches Filmfestival ebenfalls zu meinen Ausgeh-Terminen gehört, dreht dort zusammen mit den Polnischen Versagern eine „Reise um die Welt in 80 Tagen“ – die nicht aus Berlin rausführt. Das muss sie auch nicht, weil die Welt hier fortwährend im Lokalen aufschlägt.
Eine Weile lang ging ich fast täglich ins Gericht (6) zu irgendwelchen Prozessen, am Interessantesten waren die im Jugendgericht. En passant lernte man dabei auch noch den Bezirk Moabit kennen. Wobei nach dem Rauchverbot dessen Sozialgeografie noch einmal neu strukturiert werden musste. Seitdem gilt es überall, ein Netz sogenannter Raucher-Inseln im Kopf zu haben. Die Suche nach solchen ufert bisweilen aus, aber dadurch lernt man neue Ziele zum Ansteuern kennen und die verräucherten Eckkneipen mit Schlagermusik und allerlei Spielgeräten kommen zu neuen Ehren: z. B. die Altberliner Kneipe „Bären-Eck“ (7) an der Hermannstraße, das „Florian“ am Kreuzberger Heinrichplatz, die „Eselsbrücke“ im Prenzlauer Berg und die Pankower „Flora-Stube“. Das sind nun alles Ausgehziele, oder mindestens Zwischenstopps für Rauchpausen. Und ein Buch lesen kann man dort auch – genauso gut wie zu Hause im Bett.