piwik no script img

Der Heimatbibliothekar

In der Brandnacht musste Knoche tatenlos zuschauen. Dann hielt er es nicht mehr aus„Als Bühne war die Bibliothek beliebt“, sagt er heute, „aber niemand packte die Probleme an“

AUS WEIMAR BARBARA BOLLWAHN

Das Schöne am Leben ist, dass Dinge passieren können, die die Frage aufwerfen, ob es sich um puren Zufall handelt. Oder ob das eine mit dem anderen womöglich in einem Zusammenhang steht. 1983 schrieb Michael Knoche in Köln seine Dissertation über Volksliteratur des 19. Jahrhunderts. Dazu brauchte er Drucke und Schriften, die es im Westen nicht gab. Wie jeder halbwegs bewanderte Germanistikstudent wusste er aber, dass er sie im Bestand der „Zentralbibliothek der Deutschen Klassik“ finden konnte, die Texte vom 9. bis zum 20. Jahrhundert beherbergt. Das Problem war nur: Die Bibliothek stand in Weimar. Glücklicherweise war die Grenze für derlei Transfers durchlässig. Per Fernausleihe bekam er die gewünschten Materialien problemlos geliefert. Heute, 22 Jahre später, ist Michael Knoche Direktor dieser Bibliothek, deren einzigartiger Fundus ihn als Student aus der Ferne beeindruckt hatte, die von 1797 bis 1832 unter der Leitung von Johann Wolfgang Goethe stand und die mittlerweile den Namen ihrer größten Förderin trägt, der Herzogin Anna Amalia.

Kleinkariert ist das Erste, was an dem Bibliotheksdirektor auffällt, wie er in seinem Büro auf einem Biedermeierstuhl an einem schönen Intarsientisch sitzt und Tee anbietet. Kleinkariert in Grau und Weiß das Hemd, kleinkariert in Brauntönen das Jackett und die Hose, die der schlanke Mann an Hosenträgern befestigt hat. Doch die Kleidung trügt. Knoche ist alles andere als kleinkariert. Der 54-Jährige wirkt in erster Linie bescheiden. Dabei wurde er vor gut einem Jahr über Nacht zum Helden. Über die Bibliothek, die in erster Linie Anlaufstelle für Wissenschaftler ist, sprachen plötzlich auch Menschen, die eher zum Telefonbuch greifen als zu einer Handschrift aus dem 17. Jahrhundert.

In der Nacht des 2. September 2004 brannte der Dachstuhl der von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärten Anna-Amalia-Bibliothek. Noch eine Stunde lang konnten Mitarbeiter des Hauses 10.000 Bände, 80 Büsten und Gemälde aus den Flammen retten. Dann sperrte die Feuerwehr das Gebäude. „Diese schreckliche Untätigkeit war das Schlimmste“, sagt Knoche heute. Anderthalb Stunden musste er tatenlos den Flammen zusehen. Dann hielt er es nicht mehr aus. Zusammen mit einem Feuerwehrmann lief er noch einmal in den Rokokosaal, das Herzstück des Hauses. Im Schein einer Taschenlampe stolperte er über Schläuche und durch Qualm – von oben bekam er durch das erhitzte Löschwasser eine warme Dusche verabreicht – und rettete das kostbarste Stück der 600 Bücher umfassenden Bibelsammlung: die Lutherbibel von 1534.

Michael Knoche winkt ab. Er will kein Aufhebens von der Sache mit der Bibel machen. „Da waren auch noch zwei frühe Drucke des Neuen Testaments von 1522, antiquarisch wahrscheinlich noch wertvoller.“ Insgesamt verbrannten in jener Nacht 50.000 Bücher aus der Zeit vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Es war der größte Bibliotheksbrand seit dem Zweiten Weltkrieg, 62.000 Schriften wurden durch Feuer und Löschwasser stark beschädigt.

Der Schaden des Feuers, das durch einen elektrischen Defekt verursacht worden war, der einen Schwelbrand ausgelöst hatte, besteht für Knoche auch nicht unbedingt im Verlust von spektakulären Einzelstücken. „Der Verlust besteht darin, dass ein Fundus verbrannt ist, den es so in anderen Bibliotheken nicht gibt.“ Deshalb sei die eigentliche Tragödie die, dass kulturelle Überlieferungen von unbekannten Dichtern wie Diederich von dem Werder, Kochbücher aus dem Südthüringischem des 16. Jahrhunderts oder die Jagdordnung eines Fürsten vernichtet wurden. Gern zitiert Knoche Elias Canetti mit dem Satz, dass eine Bibliothek „ein anderer Begriff für Heimat“ sei.

Schon immer wollte Michael Knoche Bibliothekar werden. „Ich hatte immer ein Faible für Bücher und Literatur“, sagt er, „und für organisatorische Fragen.“ Nach seinem Studium der Germanistik, Philosophie und Theologie in Tübingen legte er Bibliothekswissenschaften nach. Anschließend hatte er erst einen Lehrstuhl für Bibliothekswissenschaften in Köln inne, dann arbeitete er bei wissenschaftlichen Verlagen in Heidelberg und Berlin.

Als der gebürtige Westfale im Sommer 1990 eine Anzeige mit der Ausschreibung der Direktorenstelle der Bibliothek in Weimar las, schrieb er sofort seine Bewerbung. „Ich wusste, das ist die Traumstelle.“ Am 1. Juli 1991, dem Jahr des 300. Jubiläums des Hauses, trat er seinen Posten an. „Ohne die Wende“, sagt Knoche, „wäre ich nicht zum Bibliothekswesen zurückgekommen.“

Er hat seinen Traumjob bekommen, noch dazu in dieser besonders bewegten Zeit. Knoche erzählt von der großen Euphorie damals – „man konnte und durfte unheimlich viel bewegen“. Von der Dienstwohnung, die er direkt neben dem Goethehaus am Frauenplan bezog und die jetzt zum Nationalmuseum gehört. Von dem Büro seines Vorgängers – „mit einem schrecklich roten Plastikteppich, einem unendlich wuchtigen Schreibtisch und einem altertümlichen Telefon, das nicht funktionierte“. Erstaunte Blicke von Mitarbeitern begleiteten ihn, als er seinen Computer aus dem Westen anschloss. „Ich wurde als Wessi mit großer Sympathie und offenen Armen empfangen.“ Knoche erzählt von der beruflichen Herausforderung. Schließlich galt es Anfang der Neunziger, die einstige herzogliche Hofbibliothek hin zur Forschungsbibliothek neu zu positionieren.

Zu guter Letzt musste im Jahr seines Amtsantritts auch noch ein neuer Name für die Bibliothek gefunden werden. Von Anna Amalia war Knoche damals nicht überzeugt. „Ich hatte die Befürchtung, das könnte so einen feudalen Touch kriegen“, sagt er über die Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, die hochgebildete Zeitgenossin Goethes. Er schlug „Historische Bibliothek Weimar“ vor – er ließ sich eines Besseren belehren.

Natürlich war Knoches neuer Job nicht nur traumhaft. Er fand eine Bibliothek vor, deren Stammgebäude heruntergekommen, deren Handschriftensammlung vom Schimmel befallen, deren Bausubstanz marode war und deren Jahresetat gerade so zum Halten des Status quo reichte. Nichtsdestotrotz bekam die Bibliothek regelmäßig hohen Besuch: Frankreichs Präsident Mitterrand war da, auch der japanische Kaiser, „was weiß ich“. Knoche sonnt sich nicht im Namen hochrangiger Staatsmänner. Doch er moniert: „Als Bühne war die Bibliothek durchaus beliebt. Aber niemand packte die Probleme an.“ Warum nicht? „Das Kulturbewahrende stand nicht auf der Agenda der Politik“, sagt er heute.

Nach Jahren stimmten Bund und Land schließlich einer Sanierung zu. Nur: Da war es schon zu spät. Vier Wochen vor dem Brand war der historische Rokokosaal der Bibliothek für den Besucherverkehr geschlossen worden. Vier Wochen nach dem verhängnisvollen 2. September sollten alle Bücher und Kunstwerke ausgelagert werden, damit die Sanierung beginnen kann. Dann kam der Brand und mit ihm die bittere Bestätigung für Knoches Warnungen vor der tickenden Zeitbombe.

Eine „Rechtfertigungsdiskussion“ musste er danach nicht führen. Nur einmal fühlte er sich angegriffen. Prinz Michael von Sachsen-Weimar forderte seinen Rücktritt. Knoche lächelt süffisant, als er den Namen erwähnt. Das Oberhaupt des einstigen Fürstenhauses Sachsen-Weimar-Eisenach, zu deren Besitz bis zur Enteignung 1945 auch große Bestände der Anna-Amalia-Bibliothek gehört hatten, ließ sich als Mäzen feiern, als er nach Empfang einer millionenschweren Ausgleichszahlung, die nur durch den Verkauf anderer Kulturgüter möglich war, auf die Rückgabe verzichtet hatte. Eine Rücktrittsforderung also, die nicht wirklich ernst zu nehmen ist.

Anders verhält es sich mit den anonymen Briefen, die Knoche bekommen hat. Es waren nicht viele, aber sie waren im Tonfall bedrohlich. Darin wurde er aufgefordert zu verschwinden. „Wilde Verschwörungstheorien“, meint er heute.

Der Bibliotheksbrand löste eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. Zehn Millionen Euro von Privatpersonen und Stiftungen gingen ein, fünf Millionen Euro staatliche Gelder, auch in diesem Jahr gab und gibt es Benefizveranstaltungen und Spendenaufrufe. Insgesamt werden für die Restaurierung der Bibliotheksbestände 67 Millionen Euro gebraucht. „Wir haben erst ein Fünftel zusammen“, sagt Knoche. Mindestens zwanzig Jahre wird die aufwendige Wiederherstellung der zerstörten Bücher dauern, so lange muss Geld fließen.

Doch heute wird erst einmal das Richtfest für den neuen Dachstuhl über dem Rokokosaal gefeiert. Schon im Februar wurde der lange geplante Erweiterungsbau der Bibliothek eröffnet. Zu ihm gehört ein unterirdisches Magazin mit einer Million Bänden, in das damals tausende aus den Flammen gerettete Bücher gebracht wurden. Das neue Studienzentrum ist fünfmal größer als die vorher zur Verfügung stehende Fläche. Gab es früher 2.500 aktive Nutzer pro Jahr, sind es schon jetzt doppelt so viele.

Immer wieder fragt sich Knoche, warum Bücher, Handschriften und Kompositionen aus dem 16. oder 17. Jahrhundert bei Menschen, die nie etwas mit der Forschungsbibliothek zu tun hatten, eine so große Anteilnahme ausgelöst haben. Er glaubt, eine Antwort gefunden zu haben. Da ist zum einen die Geschichte Weimars, das Wirken Goethes; der Rokokosaal, der vor dem Brand als einer der schönsten Bibliotheksräume in Europa galt, den 1999, als Weimar Kulturhauptstadt war, 250.000 Menschen sehen wollten, in den aber nur 13.000 hineingelassen werden konnten. Und dann ist da dieses Gefühl, das sich plötzlich bei vielen Menschen eingestellt hat für die Bedeutung der Bibliothek mit ihrem kulturellen Erbe von Goethe, Schiller oder Herder. „Verlust an geistiger Heimat“ nennt er das. „Ich glaube, das spielt eine große Rolle.“ Knoche hofft, dass das Gefühl anhält.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen