berliner szenen Kalter Krieg

Peinliche Grippewelle

Das Leben ist voller Peinlichkeiten. Wirklich peinigen aber nur die, die man kommen sieht. Etwa wenn man ein klassisches Konzert besuchen will und von vornherein zu wissen glaubt, dass einen die Emotionen überwältigen. Bei mir ist es beispielsweise Schostakowitschs 8. Sinfonie, deren Spannung nicht nur in ihrer schwer zu deutenden politischen Aussage liegt, sondern auch in ihrer Intensität, die mich regelmäßig zum Heulen bringt. Kein Wunder, treibt der russische Komponist die Beteiligten doch durch ein emotionales und akustisches Minenfeld. Von einer panischen Triangel über nervenzerfetzende Violinen bis zur donnernden Pauke lässt Schostakowitsch bereits im ersten Satz nichts aus, um die Qualen des Krieges darzustellen.

Dazwischen, um die Dramatik zu verstärken, immer wieder Passagen, in denen man die oft bemühte Stecknadel fallen hört. Wie aber in dieser Zeit höchster Konzentration mit dem schluchzenden Ego umgehen? Das sind so die Gedanken, die mich schon vor dem Betreten des Konzertsaals nervös machen.

Und dann kommt alles anders. Im Mittelpunkt stand nämlich alsbald eine Frau, die trotz keimender Grippe nicht auf das Gastspiel des Dirigenten Vladimir Ashkenazy verzichten wollte. Am Morgen hatte ich übrigens erfahren, dass es zurzeit nur schwer möglich sei, sich gegen den Virus impfen zu lassen, da ein großer Teil der Impfstoffe von US-amerikanischen Händlern aufgekauft worden sei.

Ich weiß nicht, was mich an diesem Abend mehr nervte – das Husten der Frau oder das böse Zischeln einiger Besucher. Nur meine Vorstellungskraft tröstete mich: Im November 1943, bei der Uraufführung in Moskau, dürfte nicht nur Stalin verschnupft gewesen sein. MEIKE JANSEN