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Archiv-Artikel

Die Sex-Beballerung

In seiner neuen Diskurs-Soap möchte René Pollesch neoliberale Biografien ficken, in Luc Percevals „Lulu“-Bearbeitung kennt die Prostitution nur Chiffren, Codenamen und vor allem Wünsche – zwei Uraufführungen an den Münchner Kammerspielen

VON SABINE LEUCHT

Zweimal Pornografie – und zweimal so verschieden. Das eine Mal hat sie auf seltsame Weise viel mit einem selbst zu tun. Das andere Mal lacht man über ein paar Einfälle ab: Denn ein Pornodarsteller, der während des Ficks hinter vorgehaltener Hand spricht, ist doch ein absurdes Bild. Drum werden in René Polleschs neuer Diskurstheater-Soap „Schändet eure neoliberalen Biographien!“ das Erleben bei der Sexarbeit, deren Repräsentationscharakter und der mögliche Inhalt des Beiseitegesprochenen nicht nur miteinander verschlungen und lautstark zerkaut, sondern es wird auch illustrativ das Inventar geschändet, dass es nur so kracht. Katharina Schubert rammelt beiseitesprechend das stillose Porzellanvieh, das die perserteppichbunte Lounge-Landschaft im Neuen Haus der Münchner Kammerspiele krönt. Sebastian Weber, Stefan Merki und Gundi Ellert nehmen sich alles andere vor.

Zum Beispiel den Sperrholzverhau, auf dessen Innenwand „Pollesch Häuschen rechts“ zu lesen ist. Die daran lehnende Leiter ist mit „Goldringe linx“ (sic!) bezeichnet. Sie war damit mutmaßlich für den Einsatz in Christiane Pohles Inszenierung von Joana Laurens „Fünf Goldringen“ gedacht, während das Pollesch-Häuschen, das ein Pollesch-Häuschen darstellen darf, schon etwas weniger sich selbst entfremdet ist. Oder hat sich vielleicht schon das Holz, indem es für ein Bühnenleben bestimmt worden war, eine neoliberale Bio zugezogen …?

Dies darf man denken, während die Schauspieler zu nervender Pling-Plang-Musik „Schweißbürger“ schreien und: „Deine Biografie macht die Kloarbeit!“ Auf den beiden Leinwänden, wo im ersten Drittel des stundenkurzen Abends Schauspieler zu Einflüsterern der Pollesch’schen Theorie-Mantras mutieren, tanzen vier Klobürsten mit einem Stacheldraht Macarena, wobei sich zeigt, dass die Gefahr nur momentan umgehbar ist. Dann werden sie gefangen: die Klobiografien von den neoliberalen Widerhaken – oder so ähnlich.

Selten wurde dermaßen deutlich, wie deterministisch Polleschs Weltbild ist. Und selten wirkten seine Thesen so flach. Zwar bleibt es lustig anzuschauen, wenn sich gelernte Schauspieler als Schnellsprechsportler am mitspielenden Souffleur zu reiben und zu vergewissern haben. Doch der künstlerische Leiter des Berliner Praters ist dabei, zum Kopisten seiner selbst zu werden. Die originellsten Textbausteine hat er Wort für Wort aus seinem Salzburger „Cappuccetto Rosso“ herausgebrochen. Und weil sie dort die unmäßig wilde Sophie Rois, hier aber nur eine mutige Gundi Ellert zu sagen bekam, hört es sich schon ein wenig nach dem guten alten Sprechtheater an.

Weil so ein kurzer Besuch im Pollesch-Museum wahre Theaternarren nicht befriedigt, gibt es in den Kammerspielen zwei Tage danach noch eine weitere Premiere, die fremder ist und seltsamer als alles, was uns Pollesch je servierte. Und einzigartiger, denn hinter der Uraufführung von Feridun Zaimoglus und Günther Senkels „Lulu Live“ steht der Kopf von Luc Perceval. Und der erfindet sein Theater mit jedem Stoff neu. Diesmal heißt das Motto Bilderverweigerung – und redundante Beballerung mit verbalem Sexersatz, der hier als Schrift über eine bühnengroße Leinwand läuft. Buchstäblich „läuft“, denn man ist live dabei, wenn die Chat-Freier von Lulu verlangen, dass sie in ihre Schuhe pisst. Bis das Spielchen immer wieder endet mit einem lang geschriebenen „Aaaaaaaaaaah“ oder mit „Scharfer Hengst leaves the conversation“.

Man hat beim Zuschauen alle möglichen Einwände gegen diese strenge Form des Theaters schon im Ohr – und doch ist der Abend ein Erlebnis. Wer Schockeffekte erwartet, wird zwangsläufig enttäuscht. Man muss den Dreck lesen und sich davon anekeln oder erregen lassen. Billiger lässt einen Perceval nicht davonkommen. Zum sorgfältig abgemischten Stimmensoundtrack und einem Schattenspiel, das die Bewegungen des Chatroom-Personals und der Kunden zeigt, sieht man sehr lange keine Gesichter. Nur Schemen und allenfalls mal ein dunkles Profil: Das Geschäft der modernen Prostitution, dem Perceval und sein Autorenteam Wedekinds glückloses Hurenkind einverleibt haben, kennt eben keine Personen, nur Chiffren, Codenamen und vor allem Wünsche. Und diese Wünsche deutlich werden zu lassen, ohne sie auszusprechen, darin ist Perceval Meister. Das Telefongespräch-Hörspiel zwischen Julia Jentschs Lulu und Christoph Lusers „Mann mit den kalten Füßen“ ist im Herzen dieser derben Welt so scheu und zart, dass man mit Lulu auf eine Zukunft hoffen muss. Auch wenn es einem aus dem Originalstück entgegenschreit, dass hinter dieser schüchternen Verheißung nur wieder ein Jack the Ripper steckt.

Mit Wedekinds einstigem Skandalstück hat Percevals skelettierte „Lulu“-Variante nur die frühe Vermarktung seiner Hauptfigur und ihr wahrscheinlich böses Ende gemein. Viel wird aus dem Off über den Tod geredet, über Pflegefälle und den Preis für Särge. Aber auch übers Pizzaholen, Schönheitsoperationen und das Schwulwerden in Puna. Alles was Menschen auf Arbeit halt so beschäftigt. Eine hässliche, menschliche Unordnung herrscht hinter der cleanen Benutzeroberfläche Chatroom. Und dann sieht man lange und groß eine Hand die andere streicheln – und endlich auch ein paar wunderbare Schauspielergesichter, nackt und verletzlich, die dem Ganzen jenen Zauber verleihen, den Pollesch oft hämisch-sehnsuchtsvoll zitiert. Perceval, man weiß nicht, wie, schafft es einmal mehr, uns den Menschen in seiner ganzen Trostlosigkeit zu zeigen und ihn uns doch nicht zu vergällen.