Kriegsgeschehen ohne Schönfärberei

STALINGRAD Der Historiker Jochen Hellbeck zeigt die Schlacht aus Sicht sowjetischer Augenzeugen

VON RUDOLF WALTHER

An Darstellungen und Dokumenten der Schlacht von Stalingrad (August 1942 bis Februar 1943) fehlt es wahrlich nicht. Bücher über die Schlacht aus der Perspektive der Roten Armee und der Rotarmisten – „Soldaten“ nannte man im Russischen nur die Truppen des Feindes – sind jedoch selten. Der in den USA lehrende deutsche Historiker Jochen Hellbeck präsentiert erstmals einen Teil der Protokolle von Interviews, die eine sowjetische Historikerkommission noch während der Schlacht mit Angehörigen der Roten Armee aller Dienstränge geführt hat.

Diese Augenzeugenberichte erlauben einen Blick auf das Kriegsgeschehen, der frei ist von den verzerrten Berichten deutscher Kriegsteilnehmer oder von Arbeiten jener Historiker, die befangen blieben im ideologischen Nebel des Antikommunismus und deshalb in der Roten Armee nur ein von „Propagandaklischees“ und „kolportierten Vorstellungen“ (Hellbeck) geprägtes Bild transportierten.

Perspektive der Kämpfer

Die Arbeit der Historikerkommission zählt zu den wirklich revolutionären historiografisch-politischen Unternehmen in der jungen Sowjetunion. Der Schriftsteller Maxim Gorki entwarf 1931 den Plan, „die neue sowjetische Welt“ ganz neu darzustellen – als das kollektive Werk der Arbeitenden. Gorki regte an, in 300 Fabriken Arbeiter unter der Anleitung von Schriftstellern die Geschichte ihrer Arbeit und ihrer Fabrik aufschreiben zu lassen. Auf diese Weise entstanden bis 1941 zwanzig solcher Geschichten von unten unter dem Titel „Geschichten der Fabriken und Werke“.

Die Historikerkommission unter Leitung von Isaak Minz sollte mit den Interviews an der Front die Grundlagen für eine „Geschichte des Vaterländischen Krieges“ aus der Perspektive der kämpfenden Menschen liefern. Minz hatte 1935 eine „Geschichte des Bürgerkriegs“ vorgelegt, die aber sofort makuliert wurde und erst 1938 in einer Stalin genehmen Version erscheinen konnte. Die Kommission wollte den interviewten Armeeangehörigen „ein Bewusstsein von sich selbst als Akteuren auf der weltgeschichtlichen Bühne“ vermitteln und bewegte sich, was das Kriegs-, Menschen- und Geschichtsbild betrifft, auf der politischen Linie der Partei. Zugleich bemühte sie sich um ein differenziertes Bild vom Krieg, denn sie interviewte oft mehrere Angehörige einer Armeeeinheit zum gleichen Kampfgeschehen, um dieses aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten.

Auch die Grundsätze der Kommission waren durchaus geeignet, mehr als Propaganda zu liefern: „Schwierigkeiten und Mängel nicht vertuschen. Die Wirklichkeit nicht schönfärben. Das alltägliche Leben der eigenen Einheit zeigen (das Leben, die Freizeit, die Verbindung zu den rückwärtigen Diensten, Briefwechsel, Freud und Leid). In allen Darstellungen die historische Wahrheitstreue streng einhalten. Durch Kreuzverhör der Leute und Dokumente alle Ereignisse genau prüfen.“

Die Kommission erstellte 130 Protokolle, die nicht publiziert wurden, weil Minz als Jude in Stalins Kampagne gegen den „wurzellosen Kosmopolitismus“ in Ungnade fiel und kaltgestellt wurde. Nach Stalins Tod wurde er rehabilitiert und starb 1991 im Alter von 95 Jahren. Hellbeck legt jetzt eine Auswahl dieser Protokolle vor, die geeignet sind, das Bild der Roten Armee jenseits von propagandistischen Zuschreibungen zu betrachten.

Rat bei Soldateneltern

So waren die berüchtigten Politruks und Kommissare nicht nur ideologisch besessene Agitatoren, sondern kümmerten sich in Einzelgesprächen um einfache Rotarmisten, etwa wenn diese Schwierigkeiten mit dem Alkoholgenuss hatten. Gelegentlich wandten sich Parteibeauftragte an die Eltern junger Soldaten mit der Bitte, ihre Kinder zu disziplinieren. Das ändert nichts daran, dass „Umerziehung“ (perekowka) ebenso ins Repertoire der Kommissare gehörte wie die Erschießung von „Feiglingen“ in das von Kommandeuren wie General Wassili Tschuikow.

Einzelne Protokolle belegen auch das gewachsene Selbstbewusstsein, so wenn ein Oberleutnant ein Stoßtruppunternehmen als „schlecht ausgearbeitet“ kritisiert oder Soldaten ihr Heldentum mit der Zahl der „getöteten Fritzen“ (so nannten sie die Wehrmachtssoldaten) plakativ herausstellten. Insgesamt geben die Protokolle eine realistische Beschreibung der brutalen Kämpfe und belegen „die ideologische Konditionierung“, mit der aus einer Bauernarmee „eine dezidiert kommunistische Armee“ (Hellbeck) gemacht wurde, auf die hohe Kommandeure und Kommissare ebenso wie einfache Soldaten stolz waren.

Jochen Hellbeck: „Die Stalingrad-Protokolle. Sowjetische Augenzeugenberichte aus der Schlacht“. S. Fischer, Frankfurt 2012, 608 S., 24,99 Euro