Höllische Fahrt

LESSINGTAGE Am Hamburger Thalia-Theater destilliert Regisseur Luk Perceval aus John Steinbecks Roman „Die Früchte des Zorns“ eine Atmosphäre der Düsternis

Das Tuch ist ein Auto in Luk Percevals Inszenierung von Steinbecks „Früchte des Zorns“ Foto: Armin Smailovic

von Klaus Irler

Es regnet Blätter. Braun-grau fallen sie auf die sechs Gestalten, die alles verloren haben und eine neue Zukunft im Westen suchen. Westen, das bedeutet in ihrem Fall Kalifornien, das Land, wo es Orangen geben soll und Arbeit. Da wollen sie hin, nachdem die Sandstürme ihr Land in Oklahoma verwüstet haben. Die sechs sind eine Farmerfamilie, die keine Chance hat, in ihrer alten Heimat Geld zu verdienen – die Blätter, die es regnet, sind verwelkt.

In John Steinbecks Roman „Die Früchte des Zorns“ ist es nicht nur das Klima, das die Familie Joad zur Flucht zwingt, es sind auch die Landbesitzer und Banken. Steinbecks Roman basiert auf historischen Tatsachen: Es sind die 1930er Jahre in den USA, in denen die Farmer aus Oklahoma und Arkansas nach Kalifornien aufbrechen, weil ihr Land verödet und ihre Betriebe bankrott sind. Bis zu 400.000 Migranten kommen in diesem Jahrzehnt nach Kalifornien, um Arbeit zu suchen. Aber was sie dort erwartet, sind Ausbeutung und Verelendung, Zustände, die Steinbeck detailliert schildert, um ihre Abschaffung zu befördern.

Regisseur Luk Perceval übersetzt Steinbecks Realismus am Hamburger Thalia-Theater in eine irreale Szenerie: Die Bühne ist leer und düster, wenn es Licht gibt, dann von der Seite. Der Boden ist bedeckt mit Laub, das ohne Unterbrechung von oben herabregnet. Die Blätter schweben mehr, als dass sie fallen. Sie sind ebenso ein Symbol des Übergangs wie ein Kontrast zum Geschehen auf der Bühne: Das nämlich ist alles andere als leicht, es ist denkbar schwer.

Auf der Reise nach Westen sterben in der Familie die Großeltern, der Schwiegersohn und einer der Söhne machen sich aus dem Staub, die Familie wird von Großgrundbesitzern ausgebeutet, von Hilfssheriffs drangsaliert und unwissentlich als Streikbrecher eingesetzt. Sohn Tom muss fliehen, weil er einen Hilfssheriff erschlägt, und Tochter Rose bringt ihr Baby tot zur Welt. Viele der Handlungsstränge fehlen in der Thalia-Inszenierung – Perceval setzt auf Atmosphäre, nicht auf die Geschichte.

Das Auto, mit dem die Farmer nach Kalifornien fahren, ist im Thalia-Theater ein braunes Tuch, an dem sich alle festhalten. Die Farmer tragen werktreu Latzhosen und Blümchen-Kleider. Größtenteils zumindest: Der Wanderprediger Casy steht irgendwann jesusgleich im Unterhemd da, und Sohn Tom trägt eine Cordhose, die eher nach Osteuropa aussieht.

Alle Schauspieler in dieser Inszenierung haben einen Migrationshintergrund oder eine Heimat, die nicht Deutschland ist: Casy-Darsteller Bert Luppes zum Beispiel ist Holländer und hat einen indonesischen Vater, Vater Joad wird von dem Nigerianer Nick Monu gespielt, Mutter Joad gibt Marina Galic, deren Eltern aus Kroatien und Bosnien stammen. Ab und zu wechseln die Schauspieler vom Deutschen in ihre Zweit- oder Muttersprache. Manchmal wird gesungen, um Stimmungen zum Ausdruck zu bringen: „Summertime“ etwa oder „Somewhere over the Rainbow“.

In Steinbecks Roman zerfällt die Farmerfamilie nach und nach, um dann am Ende in der Masse der Verelendeten aufzugehen. Im Thalia-Theater ist die Familie von Anfang an zerfallen: Mit ihren verschiedenen Hintergründen sind die sechs Gestalten nur eine Zweckgemeinschaft, in der die Nerven von vornherein blank liegen. Eine Aktualisierung des Stoffes gelingt mit dem Kunstgriff der multinationalen Besetzung nicht. Die Inszenierung wird nur noch etwas finsterer.

Eine Aktualisierung des Stoffes gelingt durch die multinationale Besetzung nicht

Auch das Bühnenbild betont die Ausweg- und Hoffnungslosigkeit: Der Blätterregen hört niemals auf, auch nicht, als die Farmer Kalifornien erreichen und zumindest kurz Anlass zur Hoffnung hätten. Zum Ende hin machen die Blätter kurz einem Starkregen Platz, der das Auto absaufen lässt. Der Kreislauf des stillen Verwelkens wird unterbrochen durch einen Quantensprung in der Abwärtsspirale, auf den alsbald die Totgeburt des Babys folgt.

Nach 90 Minuten ist Schluss mit diesen „Früchten des Zorns“, die durch das starke Bühnenbild von Annette Kurz eher wie eine szenisch verlängerte Installation als wie die Adaption eines Romans wirken. Die Inszenierung zielt auf atmosphärische Dichte, sie appelliert mehr an das Gefühl als den Verstand. Was bleibt, ist Betroffenheit nach einem durchweg pessimistischen Blick auf das Phänomen der Migration.

Das Thalia-Theater eröffnete mit dieser Inszenierung seine „Lessingtage“, ein Festival also, das sich grundsätzlich mit Migration, in diesem Jahr im Speziellen mit dem Thema „Das neue Wir“ beschäftigt. Mit Aufbruchstimmung können die „Früchte des Zorns“ nicht dienen. Auch nicht mit einem Beitrag zu der Frage, wie sich eine transnationale, interkulturelle Gesellschaft finden könnte. Die Inszenierung verdeutlicht allerdings, dass Flucht auch aus wirtschaftlichen Gründen kein Spaß ist. Und das tut sie eindrucksvoll.