: Die Rache der Aussortierten
Je besser Lehrer ihren Job machen, umso mehr tragen sie dazu bei, die Gewaltbereitschaft der Schüler zu verringern – sagt Soziologe Rainer Fabian
taz: Der Lübecker Prozess beschäftigt die Medien. Haben Sie die Berichterstattung verfolgt?
Rainer Fabian: Sporadisch. Um ehrlich zu sein: Diese Sensationsberichte öden mich an.
Warum?
Zwei Gründe: Die Medien zielen auf das Spektakuläre an solchen Fällen, weil die Sensation sich besser vermarktet. Die meisten Berichte sind meilenweit entfernt von der sorgfältigen biografischen Rekonstruktion, die notwendig wäre zum Verständnis solcher Taten. Außerdem: Für die Soziologie sind solche Einzelfälle eigentlich kein Gegenstand der Analyse – und jede vorschnelle Verallgemeinerung wäre fahrlässig.
Ein gewaltfreier Raum war Schule nie. Nimmt denn dort die Gewaltbereitschaft zu, wie oft suggeriert wird? Oder ändern sich nur ihre Formen?
Hier ist eine eindeutige Antwort deshalb schwierig, weil in den letzten 20 Jahren – auch durch die mediale Berichterstattung, aber vor allem durch intensivere Debatten an den Schulen – die Sensibilität fürs Thema gestiegen ist. Und weil man zwischen Schulformen, Wohnquartieren und der sozialen Herkunft der Schüler unterscheiden muss: Es gibt Hauptschulen in sozialen Brennpunkten, in denen die Lehrer mehr Sozialarbeit als Unterricht machen. In Gymnasien mit Schülern aus der Mittelschicht dagegen ist Gewalt oft kaum ein Thema. Viele Untersuchungen zeigen allerdings eine zunehmende Brutalisierung der Gewalt, die sich zum Beispiel darin ausdrückt, dass das Mitgefühl mit den Opfern nachlässt.
Oft wird die Medienfülle als mögliche Ursache genannt…
Es gehört zu den gängigen Vorurteilen, dass Gewalt in den Medien auch Gewalt erzeugt. Als gesichert kann aber allenfalls gelten, dass der Konsum gewalttätiger Medien bei Kindern, die in einem Kontext von Gewalt aufwachsen, also etwa in ihrer Familie Gewalt erfahren, deren Gewaltbereitschaft erhöht. Außerdem kann man sagen, dass übermäßiger Medienkonsum in der Regel nicht gerade die soziale Kompetenz entwickelt, etwa die Fähigkeit, mit anderen differenziert zu kommunizieren.
Welche Rolle spielt der Lehrer in diesem Spannungsfeld?
Bei einer großen Untersuchung zur Gewalt an zahlreichen Schulen in Nordrhein-Westfalen war für mich das überraschendste Ergebnis, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der Lernkultur einer Schule und dem Gewaltpotenzial gibt. Das heißt im Klartext: Je besser die Lehrer ihren Job machen, umso mehr tragen sie dazu bei, die Gewaltbereitschaft der Schüler zu verringern. Konkret zur Lehrerpersönlichkeit: Lehrer müssen selbst schon konfliktfähig sein, wenn sie Schüler bei gewaltfreien Formen der Konfliktbewältigung unterstützen wollen.
Geht das Lehramtsstudium auf Sozialisationskonflikte jenseits fachlicher Probleme ausreichend ein?
Ich habe hier große Zweifel. Ganz sicher bin ich, dass die zahlreichen Reaktionen der Kultusbürokratie auf die Ergebnisse der PISA-Studien – Leistungstests, erhöhte Anforderungen im Lernstoff etc. – auch den besten Bemühungen von Schule und Hochschule gegenüber in dieser Hinsicht kontraproduktiv sind.
Das kollidiert mit der landläufigen Auffassung, dass Schule in erster Linie dafür da ist, Wissen zu vermitteln. Hat sich das geändert?
Dem Pädagogen Hartmut von Hentig zufolge erleben wir es in der Schule immer häufiger, dass sich „Lebensprobleme“ vor die „Lernprobleme“ stellen und dass man erstere bearbeiten muss, um sich den Lernprozessen zuzuwenden. Das war sicherlich in der autoritär geführten Schule mit autoritär sozialisierten Schülern alles einfacher. Aber hinter die Anforderungen einer demokratischen Erziehung können und wollen wir nicht wieder zurückgehen.
Das spräche auch gegen das selektive deutsche Schulsystem…
Am Beispiel der skandinavischen Länder kann man sehen, dass eine späte Selektion der Schüler – nicht schon nach der 4. Klasse wie bei uns – mit einer stärkeren Förderung auch schwächerer Schüler zu weniger Gewalt führt: Wer schon mit zehn Jahren die Erfahrung macht, dass er zukünftig kaum Chancen auf einen passablen Platz in der Gesellschaft hat, wird sich weniger mit der Schule und den Lernprozessen identifizieren als diejenigen, die es aufs Gymnasium schaffen. Und wir wissen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Identifikation mit der Schule und der Gewaltbereitschaft von Schülern.
FRAGEN: Benno Schirrmeister