SYRIENS PRÄSIDENT KÖNNTE DEN MEHLIS-REPORT INNENPOLITISCH NUTZEN : Galgenfrist für Assad
Das syrische Regime steckt in seiner schwersten Krise seit der Machtübernahme von Präsident Baschar al-Assad im Frühjahr 2000. Der Abzug seiner Soldaten aus dem Nachbarland nach der Ermordung des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafik al-Hariri, der Mehlis-Ermittlungsbericht und jetzt die Debatten im Sicherheitsrat um Resolutionen und Sanktionen zeigen, dass das Regime einem enormen internationalen Druck ausgesetzt ist. Die US-Regierung nutzt die Chance, ihre schon lang gehegten Ziele in der Region zu verfolgen. Dazu gehört nicht nur die Schließung palästinensischer Büros in Damaskus. Auch ein Ende der syrischen Unterstützung gegenüber der libanesischen Hisbollah und vor allem eine Sicherung der Grenze zum Irak sind zentrale US-Anliegen. Zeit zum Handeln und nicht nur zum Reden ist deshalb die Perspektive der Bush-Administration.
In Damaskus gibt es eine spiegelbildliche Wahrnehmung: Für das Regime – und vermutlich auch für einen Teil der Bevölkerung – ist die ganze Aufregung Teil einer amerikanischen Verschwörung, die darauf abzielt, das Regime zu destabilisieren, wenn nicht gar zu stürzen. Die USA wollen eine neue Ordnung in der Region durchsetzen, so die Befürchtung. Dabei stehen die Zeichen auch innenpolitisch auf Veränderung – und das schon vor dem Mord an Hariri. Zwar hatten sich die Hoffnungen auf einen „syrischen Frühling“ nach der Amtsübernahme Baschars schon im ersten Jahr zerschlagen, auch wenn die Repression seither nicht mehr ganz so hart ist wie früher, die Menschen freier reden und auf dem letzten Kongress der Baath-Partei einige kleine politische Lockerungen eingeführt wurden. Doch das System ist geblieben, das alte Machtgefüge aus Partei, Geheimdiensten und Militär. Auf diese Strukturen zielt der Mehlis-Report, wenn es heißt, die Hariri-Mörder hätten mit dem Einverständnis hoher syrischer Geheimdienstbeamter gehandelt.
Seit der Schließung der Diskussionsclubs im Sommer 2001 wird in Damaskus darüber spekuliert, ob Assad wirklich Reformen wollte – oder ob er ein Gefangener des alten Apparats ist. Sollte Letzteres der Fall sein, könnte der Präsident nun versuchen, sich in Kooperation mit der Mehlis-Kommission einiger Widersacher zu entledigen und dadurch die eigene Position zu stärken. Die Ankündigung einer eigenen Untersuchungskomission und der Brief Assads an die Mitglieder des Sicherheitsrats weisen in diese Richtung. Dagegen spricht, dass das syrische Regime in der Vergangenheit schon mehrfach auf internationalen Druck mit vorübergehenden Konzessionen reagiert hat, ohne seine Politik tatsächlich zu ändern. Assad hat jetzt noch eine Galgenfrist. Wenn er sie nicht nutzt, könnte bald die Stunde der Wahrheit für sein Regime gekommen sein. BEATE SEEL