: ADIEU 2015
Adieu 2015Antonia Herrscherlässt das Jahr ausklingen
Paranoia hilft! So könnte man etwas verkürzt die Geschichte des Pschoanalytikers Stephen Grosz über eine Frau verstehen, die nach einer Reise plötzlich die Fantasie entwickelte, ein Terrorist hätte eine Bombe in ihrer Wohnungstür installiert, die beim Öffnen explodiert. Die paranoide Fantasie eines Attentats, schützte die Alleinlebende vor dem überwältigenden Gefühl der Einsamkeit.
Sinnlos, die Paranoia von Pegida-Demonstrant_innen und ihre kruden Fantasien zu entschlüsseln. Oder die wachsende Begeisterung für die Angst- und Lügenmaschine AfD. Paranoide Fantasien gehören zur normalen Gefühlswelt. Aber dagegen hilft, wie Sigmund Freud erkannte, dem Unbehagen ein höheres Level zu verpassen: Sublimierung, im Wortsinne, „sich in die Lüfte erheben“. Kultur vertreibt die bösen Geister!
Am Jahresende tragen ja die schlauesten Menschen eine gewisse Endzeitstimmung gepaart mit irrationalen Erwartungen mit sich herum. Als kulturelle Praxis haben wir uns das Ritual des kollektiven Wartens auf die magische Stunde angeeignet – als würde alljährlich das Schicksal von einer geheimen Macht neu verlost. Gefolgt von einem gewaltigen Feuerwerk.
Samuel Becket behandelt in „Warten auf Godot“ (Berliner Ensemble, 31. 12, 18 Uhr, 1. 1., 19 Uhr) sublim dieses rätselhafte Warten in Person zweier Landstreicher: „Komm, wir gehen, sagt Estragon, und Wladimir: „Wir können nicht.“ „Warum nicht?“ „Wir warten auf Godot.“ – „Ach ja!“ Godot, dessen Existenz nicht mal sicher ist, wird von beiden in einer Art Endzeitstimmung als Heilsbringer und Erlöser erwartet. Die Zeit des Wartens vertreiben sie sich mit (Gedanken-)Spielchen, die alle Kulturleistungen ad absurdum führen. Auch „Jede Stadt braucht ihren Helden“ (Deutsches Theater, 31. 12., 21 Uhr) handelt von apokalyptischer Paranoia und dem Wunsch nach einem Helden, der rettet, was nicht mehr zu retten ist.
Längst haben wir vernunftbegabten Zeitgenossen zahlreiche Rituale erfunden, die diese „Urbedürfnisse“ kanalisieren. Am Jahresende treiben es die meisten besonders toll. Also sei an dieser Stelle noch die „Silvestersause“ im SO36 (ab 22 Uhr, 12 €) empfohlen, die mit Wunderkerzen, Glückskeksen, Konfetti und Klo-Karaoko allerhand Zauber zur Abwehr von Angst bereithält. Ebenfalls ab 22 Uhr legen im Bi Nuu bei der „Silvester Pop Explosion“ 10 Djs Indie, Britpop und Beyond auf. Und zur Silvesterparty im Schwuz, werden ab 23 Uhr alle reingelassen, die rein passen.
Anderntags kann dann die postalkoholische Paranoia elaboriert werden. Wie heißt es so schön im Hamlet: „Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode.“
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