piwik no script img

Archiv-Artikel

Peng. Peng. Peng. Peng.

WINKELZÜGE DES SCHICKSALS Mit diesem Text gewann der Autor den Publikumspreis beim diesjährigen Wettbewerb Open Mike in Berlin. Ein Abdruck

Matthias Senkel

■ geb. 1977 in Greiz. Lebt und arbeitet in Leipzig. Las beim letztjährigen Open Mike Lyrik. Und gewann mit diesem Text dieses Jahr sowohl den Hauptpreis für Prosa (der von einer Jury vergeben wird, die 2009 aus den AutorInnen Ursula Krechel, Jens Sparschuh und Kathrin Röggla bestand) als auch den Publikumspreis. Seit 2002 veröffentlicht Matthias Senkel Kurzgeschichten in verschiedenen Sammelwerken.

■ Der Open Mike in Berlin, der dieses Jahr zum 17. Mal stattfand, ist einer der wichtigsten Wettbewerbe für literarische Neuentdeckungen. Julia Franck, Tilman Rammstedt, Zsuzsa Bánk und Jochen Schmidt gehörten zu den bisherigen Preisträgern.

■ Der Publikumspreis wird seit drei Jahren durch eine Publikumsjury vergeben, die in Zusammenarbeit mit der taz benannt wird. Im Preis enthalten ist ein Abdruck in dieser Zeitung – hier ist er!

VON MATTHIAS SENKEL

Parabellum I

Die Pistole meines Urgroßvaters Franz Gründel war bisher in den Tod folgender Personen verwickelt:

Jeremiah Regoldt, Handelsvertreter (1933),

Felicité Samoa Rötschke, mutmaßliche Spionin (1944), Sarkis Karabekian alias Sergej Karabekow, Frontaufklärer (1945),

und Wolfgang Plöthner (1945).

Wolfgang hatte die Pistole kurz nach seinem dreizehnten Geburtstag in den Trümmern des Nachbarhauses gefunden – gerade zur rechten Zeit, um dem bolschewistischen Mongolensturm zu entkommen. Man hatte ihn wiederholt vor der Gefahr gewarnt, Sklave der Untermenschen zu werden, falls der Russe die Stadt erobern würde. Der einzige Russe, dem Wolfgang je begegnete, war der armenischstämmige Georgier Sergej Karabekow. Der Aufklärer war verletzt in den Keller der Plöthners gekrochen. Obwohl Karabekow wenig Ähnlichkeit mit den Mongolen der Wochenschau hatte, schoss Wolfgang ihm vorsichtshalber vier Kugeln in den Rücken. Zurück in der verwaisten Wohnung, setzte er sich in den Ledersessel seines Vaters, öffnete den Mund wie beim Zahnarzt und schob die Pistole hinein.

Auch Urgroßvater Franz hatte sich die Pistole schon einmal in den Mund gesteckt. Bevor er sich aber hatte durchringen können abzudrücken, war Bettina Leudoldt in sein Leben getreten. Dass sie vor dem Eintreten angeklopft hatte, rechnete er ihr anfänglich hoch an.

Tobak im Stammbaum I

Bettina Leudoldts Schwangerschaft erwies sich als Finte. Ihr erstes Kind, Rotraut Gründel, kam erst 599 Tage nach der überstürzten Hochzeit zur Welt und wurde kurz darauf notgetauft.

Bei fast zwanzig Monaten Schwangerschaft hätte meine Urgroßmutter eine Elefantenkuh sein müssen. Als Indiz für diese Möglichkeit kann der Rüssel gedeutet werden, den Rotraut an Stelle einer Nase hatte. Rotrauts Ohren waren riesig und fleckig wie ein alter Fußball. Achtunddreißig Stunden nach der Geburt versagten alle lebenswichtigen Organe.

Zur Entkräftung dieses Indizes kann Bettinas zweites Kind, mein Großvater Wernfried Gründel, angeführt werden. Er wurde 281 Tage nach Bettinas letzter Junimenstruation geboren. Wernfried war kerngesund, und man konnte ihm bereits im Kinderwagen den Frauenheld ansehen.

Rahmenhandlung I

Ich bin zu Besuch bei Onkel Leonard in Cincinnati. Da er sich seit seiner Kopfverletzung nicht mehr auf Buchstaben konzentrieren kann, erzähle ich ihm gelegentlich ein paar Episoden aus meinem neuen Roman. Das Ungetüm heißt Winkelzüge des Schicksals und kreist um unsere Familiengeschichte. An einigen Stellen habe ich dezent hinzuerfinden müssen, blieb aber immer nah am Höchstwahrscheinlichen.

Während meines Besuchs werde ich mich in María Buendia, die Tochter von Onkel Leonards dritter Exfrau, verlieben. María betreut Onkel Leonard seit dessen Unfall im letzten Herbst – weshalb er am Ende der Rahmenhandlung sterben muss, damit María ohne Gewissensbisse mit mir nach Europa kommen kann.

Unrühmliches I

Großvater Wernfried hatte sich beim Besichtigen der antiken Ruinen den ungeschützten Nacken so schwer verbrannt, dass er den Kopf nicht mehr drehen konnte. Nicht einmal die kühle Brise, die seit Einbruch der Nacht über den Golf von Gela wehte, brachte Linderung. Der Ladeschütze Reinhard Guth hingegen hatte seinen Sonnenbrand mit sizilianischem Wein kuriert und schnarchte mit derart einlullender Gleichmäßigkeit, dass Wernfried einen Gehörschutz einsetzte.

Hinter Wernfrieds blasenübersätem Nacken war bereits fast das komplette 505. US-Fallschirmjägerregiment in die Festung Europa eingedrungen, als der Wind ihm einen Nachzügler ins Blickfeld blies. Pflichtbewusst eröffnete er das Feuer – und zog damit heftigen Granatbeschuss auf sich.

Da ein Großteil seines Körpers im Meer verteilt wurde, setzte man die am Geschütz verbliebenen Überreste fälschlicherweise mit im Grab des Ladeschützen Guth bei.

Mit beispielloser Hartnäckigkeit verteidigte die Adjutantur der Division Hermann Göring ihre Ansicht, dass Wernfried Gründel lediglich vermisst sei. Der Groll über die somit verwehrte Kriegerwitwenrente reizte Großmutter Hildes Gallenblase und zersetzte ihre Weltanschauung bereits mehr als ein Jahr vor Kriegsende – was sie unverhofft in eine äußerst günstige Neustartposition brachte.

Situs inversus

Als Großmutter Hilde am 5. März 1953 mit einem Herzanfall ins Krankenhaus eingeliefert wurde, machte es in der Belegschaft schnell die Runde, dass ihr Kreislaufsystem spiegelverkehrt angelegt war, sich ihr Herz auf der rechten Seite befand.

„Ich hoffe inständig“, sagte Chefarzt Kohlgang, nachdem Anästhesist Gerz die Wirkung der Narkose überprüft hatte, „dass nicht alle Parteikader diese Anomalie aufweisen. Ansonsten sehe ich schwarz für unsere Zukunft.“

Unrühmliches II

Ihre Position als Parteifunktionärin ermöglichte Hilde eine – selbst Schuhverkäufern unerklärliche – Sammlung Stöckelschuhe; sie ermöglichte ihr überdies, sich den jungen Karrieristen Herbert Naunthal servil zu halten: Zum Leiter der Abteilung Wohnwirtschaft aufgestiegen, wusste dieser, das von Hilde anvisierte Grundstück Regoldt zügig verfügbar zu machen. Für den kostenfreien Abriss des baufälligen Bootsschuppens und die Rodung der Brombeerwildnis gewann er eine Klasse der Pawel-Kortschagin-Oberschule. Vier Tage nach deren Subbotnik stand der Rohbau von Großmutters Gartenhaus.

Im Alter wurde Großmutter genügsamer, aber auch sensibler: Ein Paar orthopädische Schuhe trug sie, trotz Abneigung gegen das hellbraune Leder, beinahe zwei Jahre. Die Nachricht von der Öffnung der innerdeutschen Grenze schlug sich in Form einer schweren Kolik nieder, die, gefolgt von einem Hirnschlag, Großmutter noch vor Ablauf des Jahres dahinraffte.

Fantastischer Eischaum

Während Onkel Leonard seine Mittagszigarre raucht, bereitet María ihren fantastischen Eischaum zu: Sie verrührt Schokoladensirup, Selterswasser und Sahne mit frisch ausgelassenem Eiweiß, schlägt das Ganze cremig und füllt es in Schälchen. Nachdem ihre Delikatesse fünfzehn Minuten im Eisfach ausgehärtet ist, raspelt sie noch eine Lage Bitterschokolade über die Schaumkronen.

Narben

Theodor Leudoldt, der Großvater meines Urgroßvaters Franz Gründel, aß sein halbes Leben lang nur dünne Suppen: Eine Narbe machte ihm die Darmentleerung zur Tortur.

Ebenso wie der Schmiss in seiner Wange rührte diese Narbe von Oldrich Kupkas Spatengabel her. Gutsverwalter Kupka hatte sich angesichts des entblößten Hinterteils, das über seiner Gattin Viola auf und ab wippte, zu Tätlichkeiten hinreißen lassen. Das so erlangte verwegene Aussehen beschleunigte Theodors Beförderungen und begünstigte weitere Affären in den garnisonsnahen Dörfern.

Unrühmliches III

Theodor Leudoldt war mit einem Spähtrupp in ein französisches Dorf nahe Mars-la-Tour geritten, um den Versorgungsengpass seiner Einheit zu beheben. Sämtliche Lebensmittel waren jedoch bereits am Vortag von einem westfälischen Bataillon abtransportiert worden. Als Ausgleich hielt sich der Spähtrupp an der im Dorf verbliebenen Bäuerin Adèle Dupont gütlich.

Theodors Harnröhre erzwang bald darauf dessen Rückzug in die Etappe; eitrige Absonderungen verhinderten mehrere Wochen einen Fronteinsatz. Nachdem er sich im Januar 1871 bei Saint-Quentin mit einem Bajonett hatte fachgerecht durchbohren lassen, wurde die militärgerichtliche Ermittlung in Sachen Vorsätzlicher Selbstverstümmelung eingestellt.

María: Why are you alway telling such cruel old stories? You should try and tell the story of your daughter.

Ich: I haven’t got a daughter. Yet – I mean, not yet … maybe.

María: This could definitely become a great story.

Aquarium Gigantis

Sturzbäche schießen über Dachrinnen und durchweichen die Fassaden, platschen auf die Brüste der Karyatiden und Händlerinnen, die ihre Auslagen zu retten versuchen. Hier stürzt ein Radfahrer in eine Pfütze, dort wird eine Katze in den Abfluss gespült. Durchweichte Hutkrempen hängen wie Palatschinken über den Gesichtern der Kutscher. Konstabler Erwin Rötschke gibt auf der Kreuzung standhaft den Neptun, organisiert den vorschriftsmäßigen Untergang der Stadt.

Mit derlei Unwetter war er seit 1889 bestens vertraut. Als Geschützmeister der Kaiserlich Deutschen Marine hatte Rötschke gerade den Befehl erhalten, jeden in Schussweite kommenden amerikanischen oder britischen Kreuzer aufs Korn zu nehmen, als sich ein Wirbelsturm aller im Samoa-Archipel kreuzenden Geschwader bemächtigte. An eine leere Munitionskiste gebunden, wurde Rötschke tags darauf von einem belgischen Handelsschiff geborgen.

Geneviève, die älteste Tochter von Kapitän Delvaux, fand die Geschichte herzerweichend, den vom Vater mit nach Hause gebrachten Seemann sympathisch. Sein erstes Kind nannte das junge Paar Felicité Samoa.

Entdeckung I

Felicité Rötschke und Studienrat Feitrück marschierten an der Spitze einer kleinen Gruppe die Wasserkante entlang. Mit ihrer Nonnenhaube ähnelte Felicité den Vögeln, die sie mit ihren Schülerinnen beobachten wollte. Sie trug einen Feldstecher um den Hals, der Studienrat ein Fernrohr im Lederfutteral auf der Schulter. Von den zwei Dingen, die Felicité entdeckte, als sie auf Einladung des Studienrats durch dessen Zeiss-Rohr schaute, war nur eines von ornithologischem Interesse.

Studienrat Feitrück bestätigte Felicités Beobachtung und publizierte diese nebst eigenhändiger Zeichnung. Die Reaktion der Fachwelt war verhalten; erst das Preisgeld, das der Studienrat beim Herbsttreffen der Hamburger Sektion des Norddeutschen Ornithologenverbandes auslobte, führte auf Wangerooge zu einer Schwemme von Fotografen, die allesamt der Siamesischen Sturmmöwe nachstellten.

Entdeckung II

Ornithologisch irrelevant war Felicités Entdeckung, dass der Ledergeruch des Fernrohrs sie sexuell erregte. Trotz geringerer Brennweite unternahm sie deshalb alle weiteren Beobachtungen mit ihrem Feldstecher. Als Wangerooge zum Sperrgebiet erklärt wurde, schenkte Felicité den Feldstecher ihrem Großneffen Peter Rötschke.

Peter Rötschke trug den Feldstecher seiner Großtante bei sich, als er auf einer Patrouille von der Résistancekämpferin Mélanie Jonot erschossen wurde.

Nach der standrechtlichen Erschießung von Mélanie und Jean-Paul Jonot reiste der Feldstecher im Tornister von Klaus Murtzek – der seit Ende eines kurzen Heimaturlaubs die Felduniform des Nordafrikakorps trug – aufgrund einer unbedachten Befehlsänderung oder eines Umkoppelfehlers nach Südrussland.

Als Luba Sergejewna Bokrowski in den Keller des zerstörten Mietshauses kletterte, fand sie den tiefgefrorenen Wehrmachtsoldaten Murtzek auf einem Rodelschlitten. Neben ihm, unter dem Schutt des Schornsteins, lag der rumänische Scharfschütze Camil Bratescu. Ein schmaler Streifen Frühlingssonne, der durch den aufgebrochenen Schornsteinschacht hereindrang, hatte bereits begonnen, dessen mit Papier und Mullbinden umwickelte Hand aufzutauen.

Onkel Leonard: Jetzt mach mal einen Punkt! Wenn permanent neue Gegenstände immer weitere Verzweigungen auslösen – wie hört der Roman dann je auf?

Ich: „Et cetera, et cetera.“

[…]