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Archiv-Artikel

Wachstum oder Glück

BERLIN taz | Ein Öltanker, der vor der Ostseeküste auseinanderbricht, verschmutzt die Strände und tötet Tausende von Seevögeln. Eine Katastrophe – doch das Bruttosozialprodukt steigt, weil Spezialfirmen beauftragt werden, die Folgen der Ölpest zu beseitigen. Ein Mann steigt aus seinem Beruf aus, um seine alte Mutter zu pflegen, bis sie stirbt. Eine Geste der Menschlichkeit – doch das Bruttosozialprodukt sinkt, weil der Mann nichts mehr verdient und das Pflegeheim eine Bewohnerin weniger hat.

Das BIP verzerrt

Diese Beispiele zeigen: Das Bruttoinlandsprodukt gilt zwar noch immer als Maßstab für den wirtschaftlichen Erfolg eines Landes, liefert in Wirklichkeit aber nur ein sehr eingeschränktes Bild davon. Der Verbrauch von natürlichen Ressourcen, Kriminalitätskosten, Konflikte in der Familie durch zu viel Arbeit – all das bleibt unberücksichtigt. Dabei sind solche Faktoren entscheidend für das Wohlbefinden und das Glück von Menschen.

Politiker und Ökonomen huldigen weltweit noch immer dem BIP-Fetisch und suchen stetig nach Wegen, das Wirtschaftswachstum weiter zu steigern. Doch es gibt auch eine Gegenbewegung, deren Bedeutung wächst. So hat sich zum Beispiel der französische Präsident Nicolas Sarkozy von einer hochrangigen Kommission mit gleich fünf Nobelpreisträgern Alternativen zum BIP vorstellen lassen. Auch die Europäische Union und das EU-Parlament starteten gemeinsam mit anderen Veranstaltern 2007 eine Initiative unter dem Titel „Mehr als BIP“. Kommissionspräsident Manuel Baroso erklärte damals: „Wir können den Herausforderungen der Zukunft nicht mit den Werkzeugen der Vergangenheit begegnen.“

Tobin und Co

Bereits zu Beginn der 1970er-Jahre legten die US-Ökonomen William Nordhaus und James Tobin, der Erfinder der Tobinsteuer, erste Ansätze für einen Measure of Economic Welfare (MEW) vor, der soziale Kosten vom Volkseinkommen abzieht, gleichzeitig aber Werte wie Freizeit als wohlstandsmehrend berücksichtigt. In den 1980ern und 1990ern entstanden auf dieser Basis der Index of Sustainable Economic Welfare (ISEW) für nachhaltiges Wachstum und der Genuine Progress Indicator (GPI), der für sich in Anspruch nimmt, „echten Fortschritt“ zu messen.

Konkrete Anwendung finden solche Fragen in der Entwicklungspolitik. Die Weltbank als deren großer Finanzier nutzt den von Nobelpreisträger Amartya Sen maßgeblich entwickelten Human Development Index (HDI), der die Lebensqualität in einem Land misst und dabei nicht nur das BIP und die durchschnittliche Kaufkraft der Einwohner eines Landes einbezieht, sondern auch ihre Lebenserwartung, die Alphabetisierungsrate und andere Faktoren.

Die Nobelpreisträger, die für Sarkozy gearbeitet haben, wollten sich nicht auf einen neuen Index festlegen, sondern favorisieren eine Art Armaturenbrett mit unterschiedlichen Indizes, unter denen das BIP nur ein Index ist. Auch die EU-Kommission will zunächst nur neue Umwelt- und Sozialindizes entwickeln und damit die Messung des Wirtschaftswachstums ergänzen. Das BIP wird also weiterhin eine zentrale Rolle spielen. STEPHAN KOSCH