Kampf um Würde

DEMENZ-ROMAN Mit „Acht Minuten“ hat der in Deutschland lebende ungarische Schriftsteller Péter Farkas einen bemerkenswerten Roman über Demenz geschrieben

Der alte Mann, die alte Frau – sie tragen keine Namen. Symbole sind sie aber nicht, und ihr Schicksal geht uns alle an: Früher oder später werden wir es teilen

VON MICHAEL SAAGER

„Mit der anderen Hand hielt sie ihre Bettdecke weiter fest, sie versuchte, sich damit zuzudecken, doch brachte sie das nicht fertig, die mitgeschleppte Fracht war zu schwer. Der alte Mann griff im Sitzen über die alte Frau hinweg und zog die Decke über sie. Die alte Frau schnaufte friedlich neben ihm, als hätte sie ihren Schlaf gar nicht unterbrochen. Von da an schliefen sie zusammen in einem Bett.“ Der alte Mann, die alte Frau – sie tragen keine Namen. Symbole sind sie aber nicht, und ihr Schicksal geht uns alle an: Früher oder später werden wir es teilen. Die Gesellschaft wird immer älter, die Demenz aber, sie ist nicht einmal ansatzweise behandelbar. Zu rechnen ist bereits in wenigen Jahrzehnten mit einer hochdementen Altersgesellschaft. Zeit, sich darauf einzustellen. Aber wie?

Dem in Deutschland lebenden, ungarischen Schriftsteller Péter Farkas reichen 136 Seiten für einen bemerkenswerten Roman über Demenz, der trotz seiner geringen Seitenzahl alles andere ist als „schmal“. Natürlich erschöpft auch „Acht Minuten“ sein komplexes Thema nicht, das klappt sowieso nicht. Er kreist es so präzise wie einfühlsam ein, reduziert sein Figurenarsenal auf das Nötigste, spart indes auch nicht mit der Drastik menschlicher Entgleisungen, dieser Spur kleinerer und größerer Zerstörungen, die ein Leben lang einstudierte Zivilsiationscodes zu bloßen Worthülsen machen. „Er hoffte, dass sie sich nicht jetzt, am Tisch, beim Frühstück, während des Essens einkotete. Daran konnte er sich einfach nicht gewöhnen.“

Kein Sachbuch, kein Roman über Demenz kommt ohne das Thema Sozialscham aus. Unverzichtbar scheint auch das nicht minder schwerwiegende Thema wachsender Ohnmacht im Verhältnis zu einer immer größeren, die Betroffenen entmündigenden Machtfülle durch das Pflegepersonal. „Acht Minuten“ bildet da keine Ausnahme. Und doch ist dieses Buch etwas Besonderes, denn es ist ganz aus der Innenperspektive eines Betroffenen geschrieben: Der Mann pflegt seine Frau, aber krank ist auch er. Lesen bedeutete ihm beinahe alles. Vorbei. Der alltägliche Kampf um Würde, gegen die Fremdbestimmung und Infantilisierung durch die Gesellschaft dominieren das Leben der beiden. Glücklicherweise ist da noch die Liebe, die das Paar füreinander empfindet. Sie betrifft das „Wir“ und das „Ich“. Am Ende freilich werden beide verloren sein.

Auf dieses Verlorensein spielt der Titel des Buches an, über den Péter Farkas sagt: „Wenn die Sonne erlöschen würde, würden wir es acht Minuten lang nicht bemerken. Es dauert acht Minuten, bis die letzte Strahlung die Erde erreicht. Und irgendwie spielt sich diese Geschichte im übertragenen Sinne während der letzten acht Minuten eines Menschenlebens ab. Die Sonne ist schon erloschen, aber das Leben funktioniert noch eine Weile. Es ist das Vorzimmer zum Tod.“

■ Göttingen: Fr, 11. 1., 19 Uhr, Literarisches Zentrum, Düstere Straße 20