: Populismus – Gefahr für das Prinzip „Direkte Demokratie“?
PRO
Ganz gewiss ist der Populismus eine große Gefahr – wie das Neubauverbot für Minarette in der Schweiz zeigt. Umfragen liefern bedrückende Hinweise, wie eine solche Abstimmung in Deutschland ausginge. Mit der Angst vor jener Geisteshaltung, die früher das „gesunde Volksempfinden“ genannt wurde, wird der Widerstand gegen eine Einführung neuer Elemente der direkten Demokratie ja auch regelmäßig begründet. Als alleiniges Argument gegen Volksabstimmungen zu allen möglichen Themen wäre das jedoch nicht ausreichend. Direkte Demokratie ausschließlich wegen eines möglicherweise fehlenden demokratischen Reifegrads der Bevölkerung zu verweigern ist selbst undemokratisch – also ein Widerspruch in sich.
Aber die Risiken der direkten Demokratie liegen nicht nur darin, dass Populisten und Demagogen ein reiches Betätigungsfeld eröffnet wird. Ebenso groß ist die Gefahr, dass finanzstarke Lobbygruppen einen noch größeren Einfluss gewinnen als bisher. Die repräsentative Demokratie bedeutet nicht nur die Übertragung von Macht für eine begrenzte Zeit, sondern auch die Abgabe einer Vertrauenserklärung für den Sachverstand der Gewählten. Ob dieses Vertrauen jeweils begründet ist, steht auf einem anderen Blatt.
Wer sich nicht hauptberuflich mit Politik beschäftigt, hat weder die Zeit noch die Möglichkeiten, sich differenziert mit einzelnen Sachfragen zu befassen, es sei denn, er oder sie interessiert sich für ein bestimmtes Thema in besonderer Weise. An Volksentscheiden nehmen aber nicht nur Interessierte teil. Wenn beispielsweise über die Laufzeiten für Atomkraftwerke die Bevölkerung in direkter Abstimmung zu entscheiden hätte – da kämen die Marketingabteilungen der großen Stromkonzerne aber auf Touren! Natürlich versuchen Lobbyisten auch auf Abgeordnete einzuwirken, das ist ihr Job. Aber die sind weniger anfällig als die breite Bevölkerung. Unter anderem deshalb, weil ihr Arbeitsplatz davon abhängt, dass sie sich von der grundsätzlichen Linie nicht abbringen lassen, für die sie – repräsentativ – gewählt wurden. BETTINA GAUS
BETTINA GAUS ist politische Korrespondentin der taz
CONTRA
Die Ablehnung der direkten Demokratie durch viele Demokraten leitet sich aus einer falschen Schlussfolgerung ab. Angeblich seien am Niedergang der Weimarer Republik die plebiszitären Elemente der Weimarer Verfassung mitschuld gewesen. Doch die wenigen Volksabstimmungen der Weimarer Zeit hatten keinen Einfluss auf die Zerstörung der Weimarer Demokratie. Auch das Grundgesetz verrät den ängstlichen Abstand zu Formen der direkten Demokratie, aus dem gleichen unhaltbaren Grund.
Die Zurückweisung speist sich aus der Befürchtung, Volksabstimmungen auf Bundesebene könnten leicht zur Beute von Demagogen und komplexe politische Fragen zu griffigen Schlagworten verkürzt werden. An die Stelle der abwägenden Vernunft träten die Emotionen des Augenblicks.
Hinter einer solchen Auffassung verbirgt sich die These, eine allseitige Diskussion sei nur im Rahmen der Institutionen möglich, die die repräsentative Demokratie bereitstellt. Die Geschichte der Bundesrepublik hinsichtlich unabhängiger gesellschaftlicher Lernprozesse bestätigt diese Annahme jedoch nicht. Die Bewertung der AKWs wandelte sich durch intensiver Diskussionen in kurzer Zeit vom Positiven ins Negative. Trotz apokalyptische Obertöne blieb der Diskurs rational. Eine Volksabstimmung hätte diese Rationalität zum Ausdruck gebracht.
Ein zweites Beispiel bildet die Bewertung des Auslandseinsatzes in Afghanistan. Dieser Einsatz wurde ursprünglich in Umfragen begrüßt, jetzt aber wird er von der Bevölkerungsmehrheit konstant abgelehnt. Diese Ablehnung entspringt nicht irrationaler Furcht. Auch hier wirkt ein Lernprozess: die Einsicht, dass die Intervention das Kriegsziel, nämlich die „Stabilisierung“ der Region, nicht erreichen kann. In beiden Fällen hätte also ein Plebiszit einen gut begründeten Entscheid bringen können.
Volksentscheide sind Ausdruck der Volkssouveränität. Aber daraus folgt nicht, dass jede politische Frage durch Plebiszit entschieden werden kann. Die Verfassung müsste die Grenzen festlegen – und bedürfte selbst der direkten Bestätigung durch das Volk. CHRISTIAN SEMLER
CHRISTIAN SEMLER ist Autor der taz