Kunst im Bau

Das Theaterprojekt „Aufbruch“ ermöglicht es einigen Insassen des Tegeler Gefängnisses, ihrem Alltag zu entfliehen und sich selbst neu zu erfinden

VON TINA HÜTTL

Mit hoch erhobenen Äxten gehen die Gefangenen in der Justizvollzugsanstalt Tegel (JVA Tegel) schreiend aufeinander los. Der Sicherheitsdienst schaut seelenruhig aus dem Glaskasten zu. 25 Männer in Springerstiefeln und knöchellangen schwarzen Röcken kämpfen martialisch – alles ist nur ein Spiel. Ein Theaterspiel. Und jetzt wird geprobt. Die täuschend echten Äxte sind aus Kautschuk. Die Muskelpakete an Oberarmen, die Tattoos und vielen Glatzen aber sind real. Ebenso wie die Insassen. Die meisten von ihnen sitzen viele Jahre hier, von Sexualverbrechern über Räuber und Mörder ist alles dabei. Nun blicken sie konzentriert auf die Choreografin. Ein Wort der zierlichen Frau, und alle stehen still.

„Aufbruch“ nennt sich das soziale Kunstprojekt, das ihnen den Ausbruch aus dem Gefängnisalltag erlaubt. Fünf Wochen hatten sie Zeit, den „Horatier, nach dem Krieg = vor dem Krieg“ von Heiner Müller zu proben. Heute Abend ist Premiere. Dafür haben sie fünfmal die Woche jeweils von 14.30 bis 21 Uhr im Kultursaal der JVA Schritte und Texte einstudiert. Sie haben Kritik einstecken müssen und interne Knastfeindschaften zumindest eine Zeit lang hinter sich gelassen.

„Im Theater zählt nur die Zusammenarbeit als Ensemble“, sagt Björn Pätz vom „Aufbruch“-Team, der die Öffentlichkeitsarbeit übernommen hat. Dieses Theaterprinzip zu akzeptieren sei Voraussetzung für jeden, der mitmachen wolle. Die Auswahl in drei Castings, zu denen sich etwa 35 Häftlinge meldeten, erfolgte deshalb auch nicht primär nach Talent. Sich auf das Spiel und die Mitspieler einlassen, das gelingt den meisten mühelos. Einer wie Matthias Donwen ist darin fast schon ein Profi.

Er sitzt seit 15 Jahren. Seit „Aufbruch“ zum ersten Mal 1997 in Tegel inszenierte, hat er nur einmal eine „künstlerische Pause“ eingelegt. „Jedes Mal sag ick, ick hör uff, aber es geht nicht“, erklärt er. Aus dem Mund des glatzköpfigen Kraftprotzes ist das die höchste Auszeichnung für das 11-köpfige Theaterteam. Finanziert wird ihre Arbeit aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds. Ohne die Unterstützung von vielen Helfern, wie etwa der Volksbühne, die unentgeltlich den Ticketverkauf organisiert, würden die 38.000 Euro für das Projekt jedoch nicht lange reichen. Ebenso engagieren sich die Beteiligten von „Aufbruch“ weit über Gebühr.

Für den Regisseur des „Horatiers“, Peter Atanassow, ist es schon die vierte Inszenierung in Tegel. Der Russlanddeutsche Ivan Jakovlev, der zum ersten Mal als Schauspieler dabei ist, attestiert ihm in Anschluss an die Probe „eine kosmische Energie“. Rein gar nichts will er auf den Theaterregisseur kommen lassen, er sei der Beste in ganz Berlin. Die Hochachtung, die Jakovlev ihm entgegenbringt, ist nicht die Ausnahme. Sie ist bei allen Männern spürbar. Atanassow sagt, er habe sie sich hart erarbeitet. „Als Regisseur muss ich hier oft schneller entscheiden, als ich eigentlich im Kopf bin.“ Die für die Theaterwelt draußen üblichen Prozesse, Ideen zu diskutieren, sie auszuprobieren und womöglich wieder zu verwerfen, kommen hier nicht gut an. „He Alter, weißte nicht, was du willst?“, heißt es dann ganz schnell.

„Im Gefängnis setzt sich der durch, der klar und schnell bestimmt. Wer schwankt, verliert seine Autorität.“ Mit diese Worten beschreibt Atanassow seine Arbeitsbedingungen. Und doch entsteht sehenswerte Bühnenkunst. Einige richtige Talente habe er schon vor sich gehabt. „Vor allem die Jungen würde man dann am liebsten, wenn sie draußen sind, auf die Schauspielschule schicken“, sagt er. Einmal in Freiheit, rutschten sie jedoch schnell weg. Seit ein paar Jahren bemüht sich „Aufbruch“ deshalb, Stücke außerhalb der Mauern zu inszenieren, mit Ehemaligen. Für kommenden Januar probt Atanassow bereits die Fortsetzung des „Horatier“, in Kooperation mit der renommierten Theaterbühne Sophiensäle.

Jetzt ist er aber mitten in Teil 1 vertieft und ruft laut zum Sprechtraining. Zwei Dutzend hart aussehende Kerle haben sich akkurat im Kreis der abfallenden Bühne aufgestellt und machen „Ojojo“ und „ujaja“. Es klingt, als hinge ihr Leben daran. Allein die Aufwärmübung ist für sie eine Grenzüberschreitung. Dann geht es über zur Probe der Chorszenen: „Weil die Schlacht schwächt, lasst uns das Los werfen, damit jeweils ein Kämpfer kämpft für die Stadt“, intonieren sie gleichzeitig – und weil es bei einigen nicht tief genug aus dem Bauch kommt, wird die Strophe wiederholt.

Leicht macht es ihnen das Stück von Heiner Müller nicht. Der Horatier-Stoff ist zweieinhalbtausend Jahre alte Dichtung. Müller hat ihn 1968 in eine nicht weniger anspruchsvolle Sprache übersetzt. Es geht dabei um die Verurteilung von Verbrechen und den Zwiespalt, ein Held zu sein und ein Täter zugleich. Das historische Lehrstück wird in weiten Teilen von Sprechchören erzählt: Rom und Alba sind Bruderstädte, doch in einem Kampf um Herrschaft verstritten. Als sie gemeinsam von einem äußeren Feind, den Etruskern, bedroht werden, beschließen sie einen Stellvertreterkampf, um ihre Heere zu schonen. Mann gegen Mann. Horatier gegen Kuriatier. Am Ende ermordet der siegende Horatier jedoch seine Schwester, weil sie den von ihm getöteten Kuriatier beweint. Er ist Sieger und Mörder zugleich.

Atanassow hat das Stück ausgewählt, weil es auch persönliche Themen der Insassen berührt. Ihm selbst geht es um die „unreine Wahrheit“; ein Hegel’scher Begriff. Also darum, dass nie nur eine Sicht der Dinge existiert. „Die Menschen hier sitzen wegen ihrer Straftaten. Aber sie haben auch vieles auf ihrer Positivseite“, sagt er. Die Sichtweise, dass er nicht nur ein Totschläger, sondern auch ein Held ist, gefällt dem 28-jährigen Ali Nebioglu gut. Eigentlich wollte er gar nicht mitmachen. Zähe viereinhalb Jahre sitzt er schon ein, weitere drei warten auf ihn. Die Zeit killt den Elan. Seine Gruppenleiterin aus dem Gefängnishaus hat ihn jedoch bedrängt. Schnell packte ihn der Ehrgeiz, nun spielt der durchtrainierte Türke die Hauptrolle. Er ist der Horatier, der für sein Volk kämpft und am Ende von eben diesem hingerichtet wird.

In der JVA macht Nebioglu eine Ausbildung zum KFZ-Mechaniker. Für die Proben hat er seinen Zellenurlaub beantragt. Auf drei Wochen im Jahr hat jeder Häftling Anspruch. Er hatte Zeit, über seine Rolle nachzudenken: „Der Horatier kennt keine Liebe, daher kann er auch die Trauer seiner Schwester über den Feind nicht verstehen“, erklärt er in der Rauchpause vor dem Kultursaal. „Man sollte Menschenliebe nie über die abstrakte Liebe zu einem Volk stellen.“

Auch die anderen Männer haben sich Gedanken über das Stück gemacht. Auf die Bitte des Dramaturgen Jörg Mihan haben sie diese auf einer DIN-A4-Seite aufgeschrieben. Teilweise wurden die Texte als Statements mit eingearbeitet. Diese Szenen gehören zu den spannendsten, ansonsten dominiert ein strenges Gerüst aus Sprechchören und Choreografie. Zum Schluss, wenn sich das Volk in der Unterwelt ihren neuen Führer sucht, treten die Besten aus der Meute hervor: sie rappen, singen oder zitieren ein Gedicht. Hier ist die Anspannung in den Gesichtern am größten. Das Improvisieren fällt ihnen schwer. Es beißt sich mit dem straff organisierten Gefängnisalltag, der zur Gewohnheit wird.

Ilja Schmelzer, einer der ältesten Mitspieler, der den Vater des Horatiers mimt, weiß, dass hier eh nur „die üblichen Verdächtigen“ mitmachen. Die intellektuellen Anlaufstellen in Deutschlands größtem Gefängnis könne man an einer Hand abzählen, meint er. Da ist die Musikgruppe, der Internet- und Buchclub. Schmelzer macht, wie die meisten Schauspieler, fast überall mit. Doch das Theater ist für ihn der Höhepunkt. Und auch Ali Nebioglu sagt: „Wenn das mal vorbei ist, dann tut es weh.“