: Heiterer leben unter weiteren Himmeln
Früher war es ein feudales Privileg, seit der Wende ist es auch für Normalverdiener erschwinglich: das Refugium auf dem Lande, abseits der Metropolen. Vor allem der strukturschwache Osten hat sich in ein Experimentierfeld verwandelt, auf dem Stadtflüchtlinge idyllischere Lebensformen kultivieren
VON CHRISTINA DEICKE
Wolkenberge streuen Nieselregen über die Landstraße. Seit zehn Kilometern kein Ort, nur ab und an ein halb verfallenes Gehöft. Auf weiten Brachwiesen wuchern Gräser und Sträucher in allen vorstellbaren Grüntönen. Direkt vor der Haustür endet die kopfsteingepflasterte Dorfstraße von Rothenmoor. Im letzten Haus des 30-Seelen-Dorfs im Landkreis Güstrow verbringen die Wahlberliner Wolf und Suzanne Jaeschke mit den drei Töchtern ihre freien Tage. „Spannend und luxuriös“, ist für sie das Haus auf dem Land, erklärt Wolf. Dabei sind die Jaeschkes keineswegs großstädtische Luxuswesen, ihr Anwesen kein versnobtes Wochenendhaus: Ein Plumpsklo trotzt dem Wind, Stapel mit Holz liegen umher. Luxus, das heißt hier: etwas Eigenes haben, selbst gestalten können, Freiräume nutzen.
Das derzeit strukturschwächste deutsche Bundesland begrüßt Besucher an der Landesgrenze im „Urlaubsland Mecklenburg-Vorpommern“. Hier, wo mancher Stadtmensch lukrative Bodenspekulation betreibt oder sich für ein bis zwei Wochen im Jahr ein Ferienapartment mietet, haben andere nach der Wiedervereinigung für wenig Geld Grundstücke und Häuser gekauft. „Zurück zur Natur“, aufs Mecklenburger Land, zieht es die Stadtflüchtigen nicht in Vollzeit, sondern wochenendeweise – wegen der inspirierenden Abwechslung.
Wolf Jaeschke arbeitet in seinem Berliner Leben mit Papier und Computer, denn dort ist er Druckdesigner in einem Copyshop. In Rothenmoor ist er vor allem damit beschäftigt, zu zimmern und zu schachten, zu stemmen und zu nageln. „Endlich etwas Praktisches“ wollte der heute 35-Jährige nach dem theoretischen Magisterstudium der Soziologie und Politikwissenschaften machen. Veränderungen und sichtbare Ergebnisse – im großen theoretischen und gesellschaftlichen Raum nur schwer erreichbar und sich scheinbar dem Einfluss des Einzelnen entziehend: Im Privaten sind sie leichter zu erzielen. Gemeinsam mit einem Mecklenburger Freund kaufte Wolf 1995 von der Treuhand einen alten Stall mit 5.000 Quadratmeter Grundstück. Beides kostete sie damals 7.000 Mark. Früherer Eigentümer war die LPG, der Stall ein „landwirtschaftliches Produktionsgebäude“, in dem DDR-Kühe Milch und Fleisch für die Republik erzeugten. „Mich als ehemaliges DDR-Kind hat die Möglichkeit gereizt, als Privatperson ehemals staatliches Eigentum erwerben und nach eigenem Gusto nutzen zu können“, erklärt Wolf.
Von 1992/93 an bis 1996 gab es, wie sich Ulrich Springer, Sachverständiger beim Ring deutscher Makler erinnert, einen regelrechten Ansturm auf Mecklenburger Grundstücke. Inzwischen seien die meisten der billigen, damals von der Treuhand verwalteten Objekte verkauft, aber Schnäppchen fänden sich noch immer: „Sanierungsbedürftige Bauernhöfe bekommen sie beispielsweise schon für 20.000 Euro.“
Berliner, die wie die Jaeschkes nach Mecklenburg pendeln, gibt es einige. Die meisten hat es allerdings eher an Müritz und Ostsee verschlagen, wo sich in den vergangenen Jahren ein Ferienhausmarkt mit hohen Preisen entwickelt hat. Ländliche Gegenden wie der Kreis Güstrow üben keine große Anziehungskraft aus, dafür sind die Bodenpreise gering. Attraktionen hier sind Ruhe, Weite und unbesiedelte Landschaft. Schlechte Infrastruktur und eine Arbeitslosenquote die seit Jahren um 20 Prozent schwankt, tragen dazu bei, dass sich die Dörfer leeren, vor allem die jungen Einheimischen fortziehen.
Dem ehemaligen Stall in Rothenmoor ist die sozialistisch-landwirtschaftliche Vergangenheit nicht mehr anzusehen. Aus der roten Backsteinfassade leuchten neue grüne Holzfenster zur Straße hin. Hohe Glastüren führen auf der Rückseite hinaus auf eine lange Holzveranda. Auf dem Boden des weiten Innenraums liegen helle Dielen. Vom Wohnraum durch Wände abgetrennt ist nur die provisorische Küche. Hier lugen rostige Dachträger durch die Decke, die Wände sind unverputzt. Einen Abfluss für das Abwaschbecken gibt es nicht, das Wasser landet in einer großen Schüssel und dann vor der Haustür. Das alte Bauernbüfett und der hölzerne Küchentisch lassen an Großfamilie und Gemütlichkeit denken und an ein Leben, in dem alles seinen festen Platz hat. Ein archaischer, übersichtlicher Alltag bildet für die Jaeschkes den Kontrast zu Berlin.
Die Uhren ticken langsamer in Rothenmoor. In der Sonne vor der Haustür ist jeder Windstoß, der ein paar Blätter durcheinander wirbelt, ein kleines Ereignis. Selten kommt jemand vorbei, ein joggender Mittdreißiger wirkt attraktionsmäßig wie ein aufgetakelter Transvestit auf Stöckelschuhen. Die kleine Dorfgemeinschaft ist seit Jahrzehnten eingeschworen, Integration kann hier schwierig sein. Den Jaeschkes ist es gelungen. „Wir wollten die Leute nicht überrumpeln“, sagt Wolf.
Also setzte er sich auf die Bank vor das Haus und ließ die neugierigen Einheimischen auf sich zukommen. Dann stellte er einen Bierwagen auf seiner Wiese auf und setzte damit ein Dorffest in Gang, zu dem kleckerweise die trinkfreudige Einwohnerschar Rothenmoors eintrudelte. Und je tiefer Suzanne und Wolf in den dörflichen Mikrokosmos eintauchten, desto mehr erstaunliche Geschichten hörten sie: solche über Hans Eisler und Helene Weigel, Bertolt Brecht und Wolf Biermann, die im verschlafenen Rothenmoor und Umgebung den Sommer verbrachten oder Freunde besuchten. Und solche über Rechtsradikale, Inzest und Alkoholmissbrauch in der ländlichen Abgeschiedenheit.
„Der Rhythmus verlangsamt sich“, sagt Wolf. Jeder Handgriff verlangt hier mehr Zeit als in der sanierten Berliner Stadtwohnung in Prenzlauer Berg. Kommen die Nachbarn vorbei, sitzen sie lange mit den Jaeschkes in der Küche und plaudern. Die Hektik der Stadt wird ausgebremst, weicht dörflicher Gelassenheit und Ruhe. „Und irgendwie regelt sich vieles von selbst“, sagen die beiden. Nachbarschaftshilfe gehört selbstredend zum Alltag, man tauscht selbst angebautes Gemüse gegen Eier, Gänse gegen Abflussrohre. Das spart häufig den Weg zum nächsten Supermarkt, der ohne Autofahrt nicht zu erreichen ist.
Den drei Mädchen Mare (7), Robin (4) und Jannecke (2) bietet Rothenmoor einen Freiraum, den sie in Berlin nicht haben. Ohne Terminstress und multimediale Berieselung entdecken sie die Natur und erfinden Rollenspiele. „In der Stadt sitzen sie in ihrem Zimmer, oder ich gehe mit ihnen auf den Spielplatz. Dort ist alles einzäunt und abgegrenzt“, vergleicht Suzanne die beiden Lebensräume. Die Jaeschkes sind umtriebige, moderne Menschen: die Suche nach Inspiration vollziehen sie in einer Pendelbewegung zwischen Berlin und Mecklenburg, zwischen Stadt und Land. Sie erlauben sich den Luxus, sich nicht festlegen und für eine Lebensform entscheiden zu wollen und zu müssen. Auf dem Land haben sie ein Leben gefunden, das dem Großstädtischen entgegensteht: Flüchtige Beziehungen, hektische Abwechslung und Fülle an Möglichkeiten der Stadt tauschen sie gegen feste Strukturen, Nachbarschaftshilfe und stabile soziale Netze.
Hinter dem Haus fällt das Gelände in eine Senke ab, durch die sich ein Bach schlängelt. Auf der Wiese stehen Schaukeln, Freiluftduschen und eine Bühne aus Holzbalken. In den Bäumen blinken Reste weißen Dekostoffes. Hier sollte im Sommer Goethes Werther als Theaterstück zu sehen sein. Suzanne, von Beruf Theaterdramaturgin, nutzt die Räume und das Gelände beinahe jeden Sommer für ein Theaterprojekt. Bei dem „Sommerkulturwochenende“ inszeniert sie mit Jugendlichen aus der Umgebung Theaterstücke.
Das verschlafene Rothenmoor verwandelt sich dann zu einem lebendigen Ort; ein kulturelles Tauschgeschäft vollzieht sich: Die Städter, die den Vorzug genießen, in die dörfliche Lebenswelt integriert zu sein, beleben im Gegenzug das Dorf mit einem Stück Geisteskultur.
Rothenmoor ist spätestens jedes dritte Wochenende und jeden Sommer Ziel der Familie. „Die Abwechslung zwischen Stadt und Land ist für uns anregend“, sagen Suzanne und Wolf. Ihnen ist es egal, dass der Ort der Abwechslung in einer Gegend liegt, aus der die dort Geborenen lieber heute als morgen flüchten.