: Es handelt sich um eine Wahl
betr.: „Linkspartei ausgegrenzt“ u. a., taz vom 19. 10. 05, „Parlament beschädigt“ von Christian Semler, taz vom 20. 10. 05
Völlig richtig gesehen, die Nichtwahl von Lothar Bisky – vor allem, aber nicht nur – durch Mitglieder der Union, war politisch töricht und kontraproduktiv. Sieht sich doch die Linkspartei jetzt wieder in ihrer Lieblingsecke der Ausgegrenzten und Entrechteten. Das schweißt zusammen und bringt die gewohnten Solidaritätsadressen. Auch kein Widerspruch, dass das Durchfallen der Person Bisky Unrecht tut. Unter Hintanstellen von Adorno: Er blieb wohl wirklich eine anständige Haut als Funktionsträger, auch im falschen System.
Wie ist die Blockade der anonymen Neinsager, die selbst überrascht über ihre Mehrheit waren, nun aufzulösen? Sicher nicht, indem ich Ihnen pauschal, wie Christian Semler es tut, das Fehlen republikanischen Geistes bei den „drei Abstimmungen“ bescheinige. „Verfassungspolitisch ist der Fall klar. Die Fraktion nominiert den Kandidaten, das Plenum stimmt ohne Aussprache zu.“ (taz v. 20.10. 05) „Verfassungspolitisch“ nutzt hier gar nichts, „verfassungsrechtlich“ sieht die Sache so aus: Es handelt sich gerade nicht um eine Abstimmung, sondern um eine Wahl. Wahlen sind in der Regel geheim, Abstimmungen sind in der Regel offen. Bei Wahlen muss ich von Geeignetheit der Person für das konkrete Amt überzeugt sein, sonst wähle ich sie nicht. Nach Semlers Akklamationsverständnis müsste das Plenum z. B. auch einen Dieter Dehm wählen, vorausgesetzt, die Linkspartei schlüge ihn vor. Das kann ja wohl nicht wahr sein.
In anderen, weniger erlauchten Parlamenten gibt es den Brauch, dass sich alle Kandidatinnen und Kandidaten für jedes Wahlamt in den Fraktion vorher vorstellen. Was hier unterblieb, kann man nachholen. Überhaupt sollte interfraktionelle Kommunikation nicht nur dann stattfinden, wenn das langwierige Procedere vieler Wahlgänge keine andere Alternative lässt. Ließe man aus Sturheit weiter die Züge Nominierungsrecht und Wahlrecht aufeinander prallen, dann und nur dann bekäme Semler doch noch Recht: Parlament beschädigt. WOLFGANG WIELAND, Neu-MdB
Ich glaube nicht, dass in der Geschäftsordnung des Bundestag steht, dass ein zur Wahl stehender Vizepräsident des Bundestags auch gewählt werden muss. Wäre das so, stünde er ja nicht zur Wahl. Selbstverständlich mag es erlaubt sein, die Motive der Abgeordneten zu hinterfragen. Herrn Bisky durchfallen zu lassen, an der Legitimität dies zu tun, sollte jedoch keineswegs gezweifelt werden. Wer dies tut, zieht – vielleicht zu Recht – die Rechtmäßigkeit und moralische „Sauberkeit“ aller Entscheidungen des Bundestags in Zweifel, dessen Abgeordnete schließlich laut Grundgesetz in erster Linie und eigentlich ausschließlich dem eigenen Gewissen verantwortlich sind – und nicht irgendwelchen Fraktionen oder demokratischen Gepflogenheiten. SASCHA MÖLLERING, Hamburg
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen