Offen für Differenzen

Großstadtroman, Roman einer schwierigen Freundschaft, isländische Familiensaga: Kristof Magnussons abwechslungsreich erzählter Debütroman „Zuhause“

von ANNE KRAUME

Das Wenige, was wir über Island wissen, verdanken wir also Matilda. Matilda hat bis vor kurzem für das isländische Fremdenverkehrsamt Journalisten über die Insel geführt – und ihr Sandkastenfreund Lárus behauptet, sie sei eine Art „wandernder Expo-Pavillon“, weil sie all das ausstellt, was man außerhalb der Insel so mit Island in Verbindung bringt. Geysire. Björk. Vulkane. Elfen. Wolfgang Müller.

Jetzt, kurz vor Weihnachten, hat Matilda ihren Job beim Fremdenverkehrsamt hingeschmissen. Statt ihrer übernimmt es Lárus, uns ein ganz anderes Bild von Island und vor allem von Reykjavík zu präsentieren – keine Elfen und Geysire weit und breit; stattdessen Kneipen und Diskos und Autofahrten über Magistralen und Hochhäuser und Popmusik und Villenviertel und die Weihnachtsbeleuchtung, die über diesem ganzen halb dunklen Winterpanorama leuchtet.

Lárus ist der Icherzähler in Kristof Magnussons Debütroman „Zuhause“. Er lebt in Deutschland, seitdem er neun Jahre alt ist – aber seine Kinderfreundschaft zu Matilda hat die ganzen zwanzig Jahre seither unbeschadet überstanden. Beide wollen gemeinsam Weihnachten feiern, und Lárus kommt schon im Advent von Hamburg nach Reykjavík. Auf einmal scheint alles ganz anders als früher zu sein. Matilda arbeitet nicht mehr für das Fremdenverkehrsamt. Sie hat sich von Svend getrennt, den Lárus seinerzeit für sie ausgesucht hatte. Und sie ist in eine Wohngemeinschaft gezogen, sie, deren Wohnung in Reykjavík vielleicht ebenso sehr wie seine eigene, Lárus’ Zuhause, gewesen ist.

„Zuhause“– dieser Romantitel weckt Erwartungen, die der Halbisländer Kristof Magnusson immer wieder bewusst und ein bisschen ironisch enttäuscht. Lárus mag zwar in Reykjavík zu Hause sein – aber mindestens ebenso sehr ist er es inzwischen in Hamburg. Matilda hat soeben ihr altes Zuhause gegen ein neues eingetauscht. Und viele von den anderen Romanfiguren sind überhaupt nicht in Island zu Hause: Jaroslawa aus der Slowakei sucht auf der Insel die Vulkane, die es bei ihr zu Hause nicht gibt; und Raphael, der sich DJ Différance nennt, vermutet bei den Isländern mehr Verständnis für seine experimentelle Musik als bei den Parisern zu Hause.

Und doch – vielleicht macht gerade diese Mischung aus Offenheit und Weltläufigkeit einerseits, und Geschlossenheit und Isolation andererseits Island zu einem perfekten Zuhause. Dass dieses Zuhause für Lárus allerdings zunehmend fremde und befremdliche Züge bekommt, das liegt nicht nur an Matilda. In Hamburg hat sich sein Freund Milan von ihm getrennt, und während Lárus noch versucht, seine Erinnerungen an die gemeinsame Zeit auf zerknickten Busfahrplänen zu notieren, überschlagen sich in Reykjavík die Ereignisse – ein Haus brennt ab, Lárus stellt fest, dass er im Melderegister als verstorben geführt wird, ein Landrover rast in eine Pizza-Hut-Filiale, verschiedene Personen werden handgreiflich, Lárus fällt in ein offenes Grab und knackt zum Schluss einen Tresor.

In diesem Zusammenhang muss man nun über literarische Genres sprechen. Ohne Zweifel ist „Zuhause“ der Roman einer gescheiterten Liebe. Es ist aber genauso ein Großstadtroman und der Roman einer schwierigen Freundschaft. Wenn die Geschichte außerdem durchaus auch krimihafte Züge annimmt, dann können all diese Elemente dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie im Kern eine isländische Familiensaga ist, deren Gehalt sich vor allem in einer einzigen Person konzentriert – in Lárus nämlich.

Über seine Familie hat sich Lárus nie viele Gedanken gemacht. Dass er jetzt damit anfängt, hängt mit seinem ehemaligen Klassenkameraden Dagur zusammen. Dessen einflussreiche Familie führt ihre Genealogie zurück bis auf die altisländische Saga von Egill Skalagrimsson. Von Lárus wegen seines Familienfimmels zunächst belächelt, gelingt es Dagur schließlich doch, diesen selbst damit zu infizieren. Dass Lárus dabei Dinge über seine eigene Familie herausfindet, die bisher unter Verschluss gehalten wurden, mag ein wenig konstruiert sein – dennoch gelingt es Kristof Magnusson nicht zuletzt dank seines abwechslungsreichen Stils, seine Geschichte überzeugend zu Ende zu erzählen.

Der 30-jährige Magnusson ist Absolvent des Leipziger Literaturinstituts. Mit „Männerhort“ und „Der totale Kick“ hat er zwei der erfolgreichsten deutschen Stücke der letzten Jahre geschrieben – von dieser Erfahrung als Theaterautor profitiert jetzt sein erster Roman: Den witzigen und raschen Dialogen merkt man an, dass sie im Ernstfall auch auf einer Bühne funktionieren würden. Und wenn wir uns am Schluss in Island wie zu Hause fühlen, dann liegt das womöglich auch an diesen guten Gesprächen.

Kristof Magnusson: „Zuhause“. Antje Kunstmann Verlag, München 2005, 315 Seiten, 19,90 Euro