: Das Tier in dir
THEATER Das Moks bringt „Traurig und fröhlich ist das Giraffenleben“ als deutsche Erstaufführung heraus – als trashige Inszenierung, die eher für Ältere taugt
von Henning Bleyl
„Fuck“, sagt der Teddy, gern auch „Fotze“, er hat halt das Tourette-Syndrom: Das graue Kuscheltier steht unter dem Zwang, ständig schlimme Worte sagen zu müssen. Die Besitzerin des Teddys, genannt „Giraffe“, hat noch ganz andere Zwänge und Nöte: „Der Mann, der mein Vater ist“, wie sie demonstrativ distanziert formuliert, „ist in denkbar schlechter Verfassung“ –, weil „die Frau, die meine Mutter war“, tot ist. Jetzt ist der vulgäre Teddy Giraffes wichtigster verbliebener Genosse.
Tiago Rodrigues hat das Stück „Traurig und fröhlich ist das Giraffenleben“, das im Moks als deutsche Erstaufführung Premiere hatte, als portugiesisches Pippi-Langstrumpf-Update geschrieben: als Selbstermächtigungsstück einer Halbwaisen, die sich Leben und Umwelt besser zu machen versucht, als sie eigentlich sind. „Besser“ wäre es zum Beispiel, wenn der verwitwete Vater weiterhin den Discovery Channel aus dem Bezahl-TV finanzieren könnte – der für Giraffe zum Platzhalter einer besseren Gegenwelt wird.
Das neu sortierte Moks-Ensemble, in dem seit dieser Saison nach Meret Mundwiler – die ebenso wie Walter Schmuck vom Bremerhavener Stadttheater zur Bremer Kinder- und Jugendsparte wechselte – Lina Hoppe und Benjamin Nowitzky das Moks-Quartett komplettieren, ist eine spielstarke Abenteuer-Crew. Aber: Die Inszenierung des sich nun entrollenden Road-&-Crime-Movies, in dem Giraffe und ihr Teddy nach Wegen zum Geld suchen, lebt über weite Strecken von jener Spielart von Trash und Surrealität, die vor allem Erwachsene lieben. Ganz konkret macht auch der ständige, fast schon rollende Rollenwechsel den Kindern die Orientierung schwer.
Dennoch ist das Schlussbild stark: Die Jagd nach Geld endet im Büro des portugiesischen Ministerpräsidenten, der im silbernen Supermann-Anzug auf einer Leiter thront. Hier, am Ziel ihres Abenteuers, gerade, als sie den Regierungschef mit Stalking-Methoden dazu gebracht hat, ihr per Gesetz den einmaligen Überfall auf eine Bank zu erlauben – da wird Giraffe jäh auf ihre Verlusterfahrung zurückgeworfen. Durch die schlichte, aber schlagende Erkenntnis, dass selbst der Premierminister ihre Mutter nicht zurück ins Leben dekretieren kann. Die sinnfällige Konsequenz: Giraffe emanzipiert sich von ihrem Tourette-Teddy. In diesem Moment gespielt von Meret Mundwiler, die eindrucksvoll kerzengrade rückwärts von der Leiter stürzt.
„Das ist der Tag, an dem ich erwachsen wurde“, sagt die bei Rodrigues als Neunjährige definierte Giraffe. „Der Entwicklungsabschnitt, der die Jugend ist“ – um Rodrigues zu variieren –, wäre demnach verlustlos zu überspringen. Dabei ist das eben die genau die richtige Zielgruppe für sein Stück: Interpretiert man die Geschichte von der toten Mutter als Parabel auf den pubertären Ablöseprozess von den Eltern, ist es jedenfalls erst recht kein Stück für Zehnjährige, wie empfohlen. Sondern eher für Siebtklässler. Zwei Jahre können da viel sein.
Martin Grünheit, der zum ersten Mal für das Moks Regie führte, bringt deutlich mehr Technik auf die Bühne, als sonst hier üblich. Soundverzerrer und akustische Schleifen, auch das beliebte Cam-&-Screen-Spiel. Das besteht darin, sich eine kleine digitale Kamera so vors Gesicht zu halten, als wäre sie ein Mikro: So kann der Zuschauer allerlei Gesichtsausschnitte im Großformat auf der Leinwand betrachten.
Die herkömmliche Seilzug-Theatertechnik, auf die das Moks meist verzichtet, kommt ebenfalls großformatig zum Einsatz. Das alles ist nicht verkehrt und nette Abwechslung. Dennoch macht das Ensemble die meisten Punkte mit einer gänzlich unaufgeregten theatralen Kompetenz: der treffenden Darstellung von Tieren. Solchen mit langen Beinen und noch längeren Hälsen.
Die nächsten Aufführungen: 28. und 29. 11. sowie 6.12, jeweils 16 Uhr
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