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Archiv-Artikel

Hartz IV abschaffen? Steinigt mich lieber!

Mehr Kampfgeist wünscht sich die Gewerkschaftsjugend auf ihrem Bundeskongress in Halle vom DGB-Chef. Aber Michael Sommer versucht, ihnen auszureden, dass Hartz IV wieder abgeschafft wird. Dafür verspricht er, wachsam zu sein

AUS HALLE ANNA LEHMANN

„Wer hat den denn eingeladen?“, fragt jemand ganz leise an einem Tisch im Saal vorne links. Nicht, dass Zweifel an der Identität des Redners bestünden: Den DGB-Vorsitzenden Michael Sommer kennt jeder der rund 100 jungen Leute im Saal, und er ist auf ihre Einladung hin zur 17. Bundesjugendkonferenz der DGB-Jugend nach Halle gekommen.

Aber Sommer erklärt gerade, dass die Gewerkschaften Hartz IV nicht mehr rückgängig machen könnten und man deshalb auf Nachbesserungen und konstruktive Zusammenarbeit mit den Koalitionsparteien setzen müsse. Nach der Fragerunde muss er deshalb noch nach Berlin zu einem spätabendlichen Treffen mit den SPD-Verhandlungsführern der laufenden Koalitionsgespräche. „Wir werden die nicht aus der Klammer lassen“, verspricht der Vorsitzende den Junggewerkschaftern. Die sind nicht recht überzeugt. „Ich mobilisiere die Kollegen im Betrieb, gegen Hartz IV auf die Straße zu gehen. Und dann kommst ausgerechnet du und sagst, das sei eh nicht mehr rückgängig zu machen. Michael, du steckst den Kopf in den Sand“, wirft Nico Bauer von der IG-Metall-Jugend Sommer vor.

Wie er denken viele DGB-Jugendliche, dass ihr Dachverband die SPD in den vergangenen drei Jahren eher umarmt als umklammert hat. Auf ihrem Bundestreffen mahnen die Delegierten der acht in der DGB-Jugend vertretenen Nachwuchsorganisationen für die nächsten vier Jahre eine kämpferische Tonart gegenüber den regierenden Parteien an. An diesem Wochenende stimmen sie über Anträge ab, in denen ein Mindestlohn von 1.500 Euro und die Ausbildungsplatzabgabe per Gesetz gefordert werden. Diese werden sie den Altvordern beim DGB-Bundeskongress im Mai präsentieren.

Sommer mahnt zu Pragmatismus. Es sei ein Erfolg, dass Schwarz-Gelb bei den Bundestagswahlen verhindert worden sei. Wachsamkeit ist dennoch geboten. „Wir lassen keinerlei Änderungen an der Tarifautonomie zu. Das sage ich auch dem Müntefering.“ Einfluss nehmen will Sommer vor allem über den Bundestag. Aber Hartz IV abzuschaffen, wie es die Bundesjugendkonferenz fordert – nein, dafür gibt es keine Mehrheit. „Da könnt ihr mich prügeln, verfolgen, steinigen.“

Dazu macht freilich niemand Anstalten. Im Gegenteil: Der Kongress steht unter dem Motto: Solidarität reloaded. Das beziehen die Gewerkschafter auch auf sich selbst. Zusammenhalt ist nicht nur vonnöten, um die Attacken auf Arbeitnehmerrechte abzuwehren, sondern auch um der inneren Probleme Herr zu werden. Im letzten Jahr hat der DGB 350.000 Mitglieder verloren, jeder Fünfte der verbliebenen 7 Millionen ist pensioniert oder arbeitslos. Das heißt, dass nur noch knapp 6 Millionen der rund 40 Millionen Beschäftigten von DGB-Gewerkschaften vertreten werden. Und an Nachwuchs mangelt es.

„Wir müssen zweigleisig fahren – auf der einen Seite die große Politik, auf der anderen Seite müssen wir uns stärker um die Leute vor Ort kümmern“, meint René Voigtmann. Der 26-jährige Lokführer ist von seinem Betrieb freigestellt und kümmert sich um die Azubis des Konzerns Deutsche Bahn. Man habe sich bei der Basisarbeit zu sehr auf die Betriebsräte verlassen. „Aber Betriebsräte können nicht streiken, wir können das“, pflichtet ihm Heide Humburg bei, deren T-Shirt für Solidarität mit dem revolutionären Venezuela wirbt. Voigtmann und Humburg arbeiten wie die meisten der Kongress-Teilnehmer als ehrenamtliche Gewerkschaftsmitglieder.

Heide Humburg, die Tischlerin lernt, liegt die Arbeitnehmervertretung im Blut – bereits der Vater war Betriebsrat. „Und für mich war immer klar, dass ich, sobald ich anfange zu arbeiten, in die Gewerkschaft eintrete.“ René Voigtmann ist immer noch der Einzige seiner Familie, der in der Gewerkschaft ist. Doch alle seine Freunde hat er überzeugt, einzutreten. „Weil sich Engagement lohnt. Wenn man es um Themen geht wie die Übernahme nach der Lehre, ist es besser, nicht allein dazustehen.“

Lehrlinge sind und bleiben die Hauptzielgruppe der DGB-Jugend. Daneben gibt es auch zunehmend Projekte für Studenten, von denen immerhin zwei Drittel nebenbei jobben. Und nach dem Studium starten viele erst einmal Karriere als schlechtbezahlte Praktikanten. Für sie fordert der DGB eine Begrenzung der Praktika auf drei Monate und eine angemessene Entlohnung.

Dennoch blieben Hochschüler eine schwierige Gruppe, meint Bundesjugendsekretär Christian Kühbauch, der bis 1998 selbst dazugehörte. „Unter den Studenten gibt es häufiger engagementresistente Karrieristen.“