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Archiv-Artikel

Es fährt ein Zug nach nirgendwo

Ein Gespenster-ICE fährt ein, für Bahnchef Grube wird Potemkin gebaut, und der Oberbürgermeister ist endgültig sauer. Schwäbisch Hall und Stuttgart 21– das passt für Hermann-Josef Pelgrim (SPD) nicht mehr zusammen. Deshalb soll die SPD runter vom „toten Gaul“

von Josef-Otto Freudenreich (Text) und Martin Storz (Fotos)

Mit dem Schuh streicht er über den Teer, als gelte es Beweise zu sichern. „Der war für Grube“, sagt Hermann-Josef Pelgrim und meint den schwarzen Ring um den Gully, der die gröbsten Löcher stopfen sollte. Auch die Schalterhalle ist frisch geweißelt und der Müll von den Schienen geklaubt, auf denen der Bahnchef im November 2012 einfahren sollte. Die Station Schwäbisch Hall-Hessental ist eine verrottete Haltestelle wie viele im Land.

Pelgrim ist Sozialdemokrat und Oberbürgermeister der Stadt, die 37.000 Einwohner hat. Einer, der bisher kaum aufgefallen ist. Es sei denn durch seine Werbeaktion im Frühjahr 2012. Journalisten aus Portugal hatte er eingeladen, und die schrieben so schöne Geschichten über Hall, dass 10.000 ihrer Landsleute kommen wollten. 50 sind dann hängengeblieben. Der gebürtige Bocholter ist seit 1997 das Oberhaupt der Gemeinde, und seitdem wartet er darauf, dass an dem Bahnhof, der ein Knotenpunkt auf der Strecke Stuttgart – Nürnberg sein soll, irgendetwas gemacht wird. Das hätte er Rüdiger Grube gerne vorgetragen in jenem November, aber wer nicht kam, war Grube. Dringende andere Termine. Statt seiner entstieg der Konzernbevollmächtigte im Land, Eckart Fricke, dem Regionalexpress, um dem Empfangskomitee mitzuteilen, dass die Bahn an der Lage leider nichts ändern könne. Kein Geld.

Das hat Pelgrim ziemlich verstimmt und seine Parteifreundin Annette Sawade noch mehr. Nicht nur, weil sie Grube als Bundestagsabgeordnete eingeladen hatte, sondern weil sie oft nach Stuttgart fahren muss. Und dann findet sie kein Klo im Bahnhof, häufig kein funktionsfähiges im Zug, klappernde Sitzgestelle und viel Muße in Murrhardt, wo auf den Gegenzug gewartet werden muss. „Aber wenn Sie das monieren“, sagt Pelgrim, „gelten Sie bei der Bahn gleich als Querulant.“

Immerhin: Ein ICE hört auf den Namen Schwäbisch Hall

In solchen Augenblicken erinnert sich der Oberbürgermeister an den 16. September 2004, als tatsächlich ein echter ICE in Hall-Hessental stand. Zwar nur zur Taufe, aber immerhin. „Schwäbisch Hall“ sollte das Schmuckstück heißen und ein Symbol dafür sein, wie der damalige Konzernbevollmächtigte Peter Schnell betonte, dass eine gute Eisenbahn eine zuverlässige Verknüpfung von Fern- und Nahverkehr brauche. Doch zuverlässig ist nur der Mangel: Seit Jahrzehnten fehlt zwischen Hall und Heilbronn ein Stück in der elektrischen Oberleitung. 18 Kilometer.

Der Brief war also überfällig. Die kleine verlotterte Eisenbahn und die große schöne in Stuttgart. Da musste es doch einen Zusammenhang geben. Den Brief geschrieben hat er am 21. Dezember 2012 zusammen mit seinem grünen Tübinger Amtskollegen Boris Palmer, adressiert hat er ihn an Ministerpräsident Winfried Kretschmann und dessen Stellvertreter Nils Schmid. Der Inhalt kurz zusammengefasst: Wer es gewohnt ist, mit des Steuerzahlers Geld ordentlich umzugehen, darf Stuttgart 21 nicht bauen. Und wer zum Ergebnis kommt, dass er einen Fehler gemacht hat, muss ihn korrigieren, Alternativen anbieten – und um sein Gesicht nicht fürchten.

Der Brief war Pelgrims Idee, nicht Palmers. Das überrascht, weil der 53-jährige Sozialdemokrat bisher nicht durch S-21-kritische Töne aufgefallen ist. Im Gegenteil. Lange hat er den Betreibern des Projekts geglaubt, den ganzen Versprechungen vom Herzen Europas, vom Segen für den ländlichen Raum, vom Fortschritt und Wachstum, was seiner Infrastrukturpartei so wichtig ist. Zumal es deren Vorderleute Schmid, Schmiedel und Drexler immer gepredigt haben. „Ich hatte einfach Vertrauen zu ihnen“, erzählt Pelgrim und legt dann offen, wie Meinung gebildet wird: „Wenn alle sagen, es ist gut, kann ich doch nicht sagen, es ist schlecht.“ So sei er ein Befürworter gewesen. Fürs Detail hat er sich nicht zuständig gefühlt, draußen in Schwäbisch Hall. Dafür seien die Fachleute da und der Sachverstand in der Partei, die ihm zudem versprochen hat, keinen Schaden für die Eisenbahn außerhalb Stuttgarts zuzulassen.

Ins Grübeln ist er erst durch die Geißler'sche Schlichtung geraten. Vieles, was ihm vorher schlüssig erschien, passte nicht mehr zusammen. Mit welch leichter Hand die Bahn das Thema Wasser weggebügelt hat, allein das hat ihn verblüfft. Wie sollte das bei Europas größtem Bauprojekt gut gehen, hat er sich gefragt, wenn ihm schon bei seinem Kocher-Quartier das Mineralwasser entgegengeschossen ist? Bei einer dreigeschossigen Tiefgarage auf zwei Hektar Fläche, die nach 60 Probebohrungen gesichert schien? Nichts war sicher, weil sich das Wasser nicht an die Bohrlöcher gehalten hat. Am Ende war Pelgrim froh, wenigstens zwei Etagen bauen zu können.

Von da an machte sich der OB schlau, von da an war er ein „Wackelkandidat“. Er zog sich die Gutachten des Umweltbundesamts, des Münchner Verkehrsplanungsinstituts Vieregg & Rössler aus dem Netz und stellte fest, dass vieles von dem, was ihm vorher als Propaganda erschien, der Wirklichkeit sehr nahe kam. Selbst dem grünen Verkehrsminister Winfried Hermann („Der Mann hatte recht“) glaubte er inzwischen mehr als der Bahn. Ihre Dementis („Alles Spekulation“) hat er inzwischen auch in seinen Aktenordnern abgeheftet.

Volker Kefer bei der Bausparkasse: Alles im Griff

Das leibhaftige Dementi durfte Pelgrim am 21. Juli 2011 bei der Bausparkasse Schwäbisch Hall besichtigen: Volker Kefer. Der DB-Technikvorstand war geladen, den Führungskräften des Konzerns über den Stand der S-21-Dinge zu berichten. Und Pelgrim erlebte einen Manager, der „im Brustton der Überzeugung“ erzählte, alles stünde zum Besten, man habe alles im Griff. Selbstverständlich auch den Kostendeckel. „Bedenken hat er einfach beiseite gewischt“, erinnert sich der Politiker. Das hat die Immobilienfinanzierer beruhigt, weil auch zu ihnen durchgedrungen war, dass es beim Stuttgarter Bahnhof nicht nur um Tunnels und tiefer gelegte Gleise ging.

Nur die Führungskraft aus dem Rathaus wunderte sich. Vor allem über die Nonchalance, mit der über die Kosten geredet wurde. Pelgrim hat einst Betriebs- und Volkswirtschaft studiert, war Büroleiter beim ÖTV-Tarifvorstand in Stuttgart, Referatsleiter im baden-württembergischen Wirtschaftsministerium, und damit des Rechnens mächtig. Als Oberbürgermeister und Landeschef der sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunalpolitik (SGK) war er erfahren genug, um zu wissen, dass Großprojekte immer teurer werden als geplant. „Bei Stuttgart 21 sind wir erst am Anfang“, sagt er.

Der Beweis folgte am 12. Dezember 2012. Jetzt reichten 4,5 Milliarden Euro nicht mehr, jetzt mussten es 6,8 Milliarden sein, über die Pelgrim lächeln würde, wegen ihrer Beliebigkeit, wären es nicht 68 Millionen für jeden der 100 Mittelbereiche in Baden-Württemberg, die damit eine „traumhafte Infrastruktur“ bezahlen könnten. Aber es ist ja nur der „ländliche Raum“, den der ICE unter die Räder nehmen soll, auf seiner Highspeedreise von Paris nach Bratislava. Dieser Hochmut, diese Missachtung der Provinz, ist Pelgrim mittlerweile klar geworden, macht seine Laune aber nicht besser. „Wo gibt es noch Bauern?“, fragt er. In seiner Stadt ist die Firma Recaro einer der größten Arbeitgeber. In ihren Sitzen fliegen die Menschen um die ganze Welt. Aber mit der Eisenbahn nach Heilbronn zu kommen ist eine kleine Weltreise.

Das verträgt sich schwer mit seiner Überzeugung, dass die Zukunft Deutschlands in den Regionen liegt, nicht in den Zentralen. Und es kollidiert heftig mit seiner Parteispitze, die womöglich noch heute Gottes Segen auf Stuttgart 21 ruhen sieht beziehungsweise astronomischen Schadenersatz ins Feld zieht. Für Pelgrim ein Unding, „weil man sich im Leben immer zweimal trifft“. Will sagen: Bei solchen Projekten sitzen immer dieselben Unternehmen am Tisch, und die werden einen Teufel tun, sich endgültig zu zerstreiten.

Genosse Pelgrim weiß das alles, und dennoch, oder gerade deshalb, empfiehlt er Schmiedel & Schmid, von dem „toten Gaul“ abzusteigen. Sie müssten erkennen, dass die „Geschäftsgrundlage weg ist“, die Sinnhaftigkeit des Gesamtprojekts fraglich ist und damit die Partei auch nicht mehr an ihre Beschlüsse gebunden sei. „Alles andere als ein Plan B wäre unseriös“, sagt Pilgrim. Eine Antwort auf seinen Brief hat er noch nicht erhalten.