: Umstieg aus dem Ausstieg
Wegen eines Schlupflochs im Atomkonsens dürfte das Pannen-AKW Brunsbüttel an der Elbe in dieser Legislaturperiode wohl nicht mehr abgeschaltet werden. Atomlobby und Union setzen auf Zeit
Von Reimar Paul
Die Ausgangspositionen scheinen unvereinbar. Union und Energiekonzerne treten, inzwischen von Verdi-Chef Frank Bsirske unterstützt, für eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten ein. Noch will die SPD im Berliner Koalitionspoker nicht am Atomkonsens rütteln, der Reststromkontingente für Atomkraftwerke festlegt und ihre Betriebszeit auf durchschnittlich 32 Jahre befristet. Bei den Koalitionsverhandlungen in dieser Woche dürften der designierte Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) und CSU-Chef Edmund Stoiber deshalb einen Kompromiss anpeilen.
Auch wenn SPD-Vorsitzende Franz Müntefering gestern noch einmal betonte, die Laufzeiten dürften nicht verlängert werden, zeichnet sich ab, dass in der jetzt anlaufenden Legislaturperiode kein Kraftwerk mehr stillgelegt wird. Vom „Umstieg im Ausstieg“ sprechen Unions-Unterhändler.
Dem im Juni 2000 vereinbarten Konsens zufolge müssten eigentlich das AKW Biblis A bis 2008 und die Reaktoren Neckarwestheim, Biblis B sowie Brunsbüttel im Jahr 2009 abgeschaltet werden, die verbleibenden 13 Meiler sollen schrittweise bis etwa 2021 vom Netz gehen. Eine Klausel im Vertrag sieht jedoch vor, dass die Betreiber Energiemengen von einem Kraftwerk auf ein anderes übertragen können, wenn das Bundesumweltministerium zustimmt. Die Energieversorger hatten den Konsens ja nur unterschrieben, weil sie darauf vertrauten, die nächste Bundesregierung werde ihn schon kippen.
Nun lockt die Atomlobby mit einem vergifteten „Geschenk“: Wenn die SPD der Umschichtung der verbleibenden Laufzeiten von neue auf ältere AKW zustimmt, werde man einen „substanziellen Beitrag“ für die Energieforschung leisten. Die Hoffnung: Wenn ein Umweltminister Gabriel den Deal erst mal abnickt, begräbt man den Konsens eben mit der nächsten atomfreundlichen Bundesregierung.
Das Problem: Die vier genannten Atomkraftwerke sind die ältesten noch laufenden in Deutschland. Unter ihnen ist Brunsbüttel der einzige Siedewasserreaktor, anders als Druckwasserreaktoren haben diese Reaktoren nur einen Kühlwasserkreislauf. Baubeginn für Brunsbüttel war 1970. Der Meiler ging 1976 in Betrieb, Eigentümer sind die Konzerne Vattenfall und Eon. Nach einer Ende August von Greenpeace veröffentlichten Studie geht vom Meiler an der Elbe eine besonders große Gefährdung für Umwelt und Bevölkerung aus.
Das Dach des Reaktorgebäudes halte gerade mal dem Absturz eines kleinen Sportflugzeugs stand, gegen einen Aufprall von Kampfjets oder gar Passagiermaschinen sei die Kuppel nicht gesichert. Zudem ist das Kraftwerk extrem pannenträchtig. „Seit der Inbetriebnahme summieren sich allein die längeren ungeplanten Stillstandszeiten auf rund sechseinhalb Jahre“, sagt der Physiker Helmut Hirsch. Die Liste der Störfälle ist lang. Nach nur wenigen Monaten Betriebszeit entwichen durch ein Leck an einer Dampfleitung zwei Tonnen radioaktiver Dampf in die Atmosphäre. Nach Auftreten des Lecks lief der Reaktor noch fast drei Stunden weiter. Ein automatisches System hätte ihn nach fünf Minuten abschalten müssen, es wurde aber laut Greenpeace von der Betriebsmannschaft manipuliert, um die Anlage am Netz zu halten.
1989 häuften sich die Probleme. Zunächst stellten Prüfer eine unzulässig lange Schließzeit bei einem Sperrventil fest, dann trat ein Schaden an einer wichtigen Abschlussarmatur eines Druckwassersystems auf. Bei der Anlagenrevision zeigte sich, dass 65 von insgesamt 248 Befestigungsschrauben wichtiger Isolationsventile defekt waren. Außerdem wurden vier Risse von je etwa 70 Millimetern Länge an Rohrleitungen des Kühlkreislaufes entdeckt. 1991 klemmte ein Sicherheits- und Entlastungsventil fest, 1997 war eine Einspeispumpe des Kernflutsystems gesperrt. Der größte Unfall war die Knallgasexplosion im Dezember 2001, als eine Rohrleitung zerbarst. Der Störfall ereignete sich nur wenige Meter entfernt vom Reaktordruckbehälter. „Es war nur besonders glücklichen Umständen zu verdanken, dass damals kein ganz schwerer Unfall ausgelöst wurde“, so der Reaktorexperte Hirsch.
Die Folgen waren gleichwohl gravierend. Die Explosion zerstörte eine Leitung auf einer Länge von fast drei Metern, ein abgerissenes Rohr schlug gegen den Innenbeton des Sicherheitsbehälters. Umher fliegende Trümmer der geborstenen Rohrleitung beschädigten unter anderem Kabel-Trassen und Lüftungskanäle. Spiegel online berichtete damals, die Betriebsmannschaft habe den Reaktor sofort herunterfahren wollen, sei aber von der Konzernzentrale in Hamburg daran gehindert worden. Erst nach Tagen wurde das Kraftwerk abgeschaltet – es ging erst 13 Monate später wieder in Betrieb. Als „logische Konsequenz“ aus der Pannenserie besteht Greenpeace auf der vereinbarten Stilllegung des Reaktors in dieser Legislaturperiode. Für die Betreiber ist eher eine Laufzeitverlängerung „logisch“ – damit sich der Betrieb des Reaktors noch ausreichend amortisiert.