Kreuzberger Nächte

GÄSTE An Stammtischen darf etwas mehr geraucht und lauter erzählt werden als an anderen. Schade, dass es nur noch wenige davon gibt. Ein Rundgang durch Berlins Nostalgiekneipen

Wenn Hertha verliert, legt Udo, der Kellner, den Fans die Hand auf die Schulter. „Willste’n Schnaps aufs Haus?“

VON ALFONS BERGER
(TEXT) UND SÖNKE TOLLKÜHN (FOTOS)

Die Enzyklopädie in der Eckbank

Einer der ältesten Tische im Kiez ist der des Heidelberger Krugs. Dort saßen schon im 19. Jahrhundert die Kreuzberger und erzählten sich was. An einem Abend im Juli 1923 war es besonders voll, da der Wirt gerade Vater wurde und versprochen hatte, ein ganzes Fass Freibier anzustechen, wenn es ein Junge würde. Und ein halbes, wenn es ein Mädchen würde. Das Kind wurde noch am selben Abend im Schankraum vorgezeigt und sie haben die ganze Nacht getrunken, obwohl es eine Elisabeth war, und kein Ernst oder Jakob.

Ein Klavier stand damals auch schon da. Es wird erzählt, dass Soldaten und Offiziere zu den Stammgästen im Krug gehörten und mit ihren langen Tanzbeinen die Damen im Kiez verrückt machten. In den Jahren der Hausbesetzungen, den wilden Siebzigern und den fast so wilden Achtzigern, wurde nicht mehr viel getanzt. Da trafen sich die weniger poetisch veranlagten Leute der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins SEW im Krug am Chamissoplatz. Aber wenn im Kiez ein Gerücht verbreitet wurde, kam es schon damals mit großer Wahrscheinlichkeit von dem runden Stehtisch vor der Theke oder aus der Sitzecke mit der Eckbank und der Holzvertäfelung. Dort diskutierten die Gäste ganze Nächte über das Sonnensystem, die Politik, die Triangulation, die Heizkraft von Kohleöfen, über Chopin oder Wagner, den Winterschlaf der Bären oder das Phänomen des Wetterleuchtens. Immer wieder musste sich einer erheben, um den Deckel der Eckbank aufzuklappen und den Band einer Enzyklopädie, des Brockhaus, den Duden oder den Atlas hervorzuholen, damit der Streit geschlichtet werden konnte. Heute steht dank internetfähiger Smartphones keiner mehr auf, um nachzuschlagen. Aber diskutieren können die Gäste am Stammtisch im Krug noch immer. An dem sitzen die, die schon zu SEW-Zeiten da saßen.

Nur die Wirte haben in all den Jahren gewechselt. Zuletzt war es Udo, der in seiner Freizeit mit seinem kleinen Hund im Fahrradkorb durch das Viertel fährt. Er kannte seine Gäste, und er hatte – auch wenn sie ihn nervten – eine gewisse Sympathie für diese ewig quasselnden, ewig nörgelnden Stammtischler. Jetzt haben zwei seiner einstigen Kellnerinnen das Lokal übernommen. Die Gäste aber sind geblieben. Nur ein paar hielten Udo die Treue und folgten ihm in die Destille am Mehringdamm.

Am Tisch des Grauens

Einst standen Wimpel, Aschenbecher und silberne Schilder mit der Aufschrift „Stammtisch“ auf den hölzernen Tischplatten für die ausgewählte Kundschaft. An diesen Stammtischen wurde, so wie eigentlich an allen anderen Tischen auch, geraucht, getrunken und erzählt. Allerdings ein bisschen mehr und ein bisschen lauter als an den Tischen, an denen jeder sitzen durfte. Der Stammtisch genoss Sonderrechte, und wer an ihm einen Platz hatte, der war in der lokalen Hierarchie relativ weit nach oben gekommen.

Doch die Existenz der Stammtische und Eckkneipen, in denen die runden Tische unbedingt dazugehören, ist bedroht. Statt Bier und Korn werden Latte und Riesling getrunken. Die Wirte berlinern nicht mehr so oft und erzählen auch keine Witze mehr, die den Westdeutschen die Schamesröte ins Gesicht treiben. Die alten Treffpunkte der Kreuzberger scheinen ihren Sinn zu verlieren in einer Zeit, in der man mittels elektronischer Geräte kommuniziert, in der das Trinken verpönt und das Rauchen verboten ist. Es ist also kein Zufall, wenn die letzten Stammtische in den Raucherzimmern stehen.

Der Stammtisch genoss Sonderrechte, wer an ihm Platz hatte, war in der lokalen Hierarchie weit oben

Im Yorckschlösschen trafen sich die Maler, Musiker und Dichter einst am runden Tisch mit dem Sofa. Die Wände des Lokals sind noch immer ganz gelb vom Rauch. Aber mit dem Rauchverbot verlegte man den Tisch dann von der damaligen „Südkurve“ ins Raucherzelt vor dem Haus.

Als Tina, die schon zum Inventar des Schlösschens gehört, sich eines Abends darüber aufregte, dass ihre altbekannten Gäste nicht gemeinsam ihre Runden bestellten, sondern alle immer schön nacheinander und jeder einzeln für sich, schuf sie den „Tisch des Grauens“.

Dort sitzen sie – während drinnen die Musik spielt und die Gäste tanzen – noch immer, seit Jahren schon: Gerlinde Kolberg, Jürgen Grage, Wolfgang Rügner, Klavierhelmut, Michael Stachowicz, Ulle Bormann und wie sie alle heißen. Und sie lachen noch immer so laut und so schadenfroh über jeden blöden Blondinenwitz und jede ihrer kleinen Erzählungen aus dem Leben, als hörten sie sie gerade zum ersten Mal.

Drei Bierchen vor dem Spiel, sieben danach

Das ist schon die dritte!“, sagt Udo, der jetzt in der Destille zapft und vor die schwere Eichenholzanrichte aus dem Jahr 1916 eine Leinwand zieht. „Dadurch, dass hier alle rauchen, vergilbt die natürlich ganz schnell. Und dann sieht man nix mehr.“

Am Anfang, als in allen Berliner Kneipen noch die Stammtisch-Aschenbecher auf den Stammtischen standen, kamen die Väter mit ihren Söhnen in die Destille, um hier gemeinsam den unaufhaltsamen Abstieg ihrer Fußballmannschaft mitzuverfolgen.

Doch mit der Ära Wowereit kam das Nichtraucherschutzgesetz, und da eine Destille, in der hochprozentige Destillate getrunken werden, in der aber nicht geraucht werden darf, unglaubhaft ist, durften Kinder die rauchige Höhle fortan nicht mehr betreten. Seit Mai 2009 gehen die Väter hier alleine Fußballschauen, während die Söhne zu Hause vor dem Fernseher sitzen. Immerhin konnten die allein gelassenen Väter, von der väterlichen Vorbildfunktion befreit, ihren Tränen nun freien Lauf lassen. Was sie auch taten.

In der Sitzecke diskutierten die Gäste über Politik, das Sonnensystem, die Heizkraft von Kohleöfen und Chopin

„Immer wieder, wenn Hertha verliert, fangen zwei oder drei zu heulen an“, sagt Udo, der sehr verständnisvolle Kellner, der den Unglücklichen dann tröstend die Hand auf die Schulter legt und sagt: „Nu is aber gut! Willste’n Schnaps aufs Haus?“ Trotzdem, den Herthafans macht es nichts aus, sitzt mal ein Bayernfan unter ihnen.

Die Stammgäste in der Destille würden dem sogar ein Bier ausgeben, wenn er zu weinen anfinge bei einem Spiel, das Bayern gegen Hertha verliert. Da sind sich alle sicher. Wahrscheinlich, weil sich da auch alle ziemlich sicher sind, dass das niemals passiert.

Wenn aber, weil Udo anlässlich eines Spiels das Herthafähnchen vor der Tür gehisst hat, ein Herthafan in der Destille auftaucht und Kampfgeschrei anstimmt, dann dauert es nicht lange, und der schreiende Herthafan fühlt sich an diesem Kreuzberger Stammtisch nicht mehr wohl, dafür ist er zu friedlich. Meist geht er schon in der Pause dahin, wo die Fußballfans noch richtig grölen.

Voll ist es aber immer am Mehringdamm, egal ob Hertha auswärts verliert oder in Berlin. Der Unterschied ist nur, dass die Stammrunde bei Heimspielen gleich zweimal auftaucht: Nämlich auf zwei oder drei Bierchen vor und dann auf sechs oder sieben Bierchen nach dem Spiel. Zwischendurch ist sie auf dem Fußballplatz.