piwik no script img

Berliner SzenenBegegnung

Zahnseide

Sich nicht vor dem Waschbeckenmann lächerlich machen!

Die Titelmelodie von „Ein Fall für zwei“ (yeah, baby!) pfeifend betrete ich einen meist leeren, großen Toilettenraum der Bibliothek. Fleischstücke vom üppigen Kantinenmahl hängen mir zwischen den Zähnen, aber mit dem Einsatz von Zahnseide warte ich ganz gern und genieße stattdessen das Gefühl gestopften Zahnfleischs – so langsam reicht es damit aber auch mal für heute, denke ich. Zahnseide, I need you.

Als ich den Mann am Waschbecken sehe, höre ich sofort auf zu pfeifen. Alt ist er, etwas verloddert und groß; er trägt Jagdfarben (jagdbraun, jagdgrün) und blickt verwinkelt in den großen Spiegel – mir ins Gesicht.

Obwohl er mich nicht zu bemerken scheint, wirkt der Gang viel zu schmal, als ich an ihm vorübergehe. Ich wähle eine Kabine, deren Tür schon offen steht: So erkenne ich bereits im Vorhinein, wie braun die Schüssel und das Drumherum so ist, und muss die Klinke seltener berühren.

Als ich drinstehe, kommt mir der Verdacht, dass der Mann vom Waschbecken gerade dort war. Zu wissen, wer der Toilettenvorgänger ist, nimmt dem Ekel die Anonymität, die ihn sonst erträglicher macht. Für einen Augenblick zögere ich, will aber vermeiden, mich vor dem Waschbeckenmann durch überhastetes Kabinenwechselumhergeirre lächerlich zu machen.

Auf dem Spülkasten, Quelle der Reinigung inmitten des stinkend Verdorbenen, liegt ein dickes Papiertuch, gefaltet wie eine Serviette. Ich schenke dem keine weitere Beachtung. Der Mann steht noch da, als ich mir die Hände wasche, und schaut verloren die seinen an; das Wasser läuft. Er blickt kurz zu mir und stürzt dann zur Kabine. Sekunden später kommt er wieder raus und hält in seinen Händen das Serviettenpaket.

Er öffnet es: Eine dreckige gelbe Zahnbürste und eine Tube Zahnpasta sind darin. Zahnseide hat er nicht. Adrian Schulz

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen