: Es wummert im Schuhkarton
Gegen Lautstärke kämpft auch die Polizei vergebens. Wer am meisten schreit und kostenlose Kugelschreiber verteilt , gewinnt auf der Jugendmesse YOU die Gunst der Nachkommenschaft
von Christo Förster
Die Polizei hat an fast alles gedacht. Sie hat ein grün-weißes Motorrad dabei und einen vergitterten Transporter. Das Blaulicht läuft. Nur Sirenengeheul fehlt. Doch das wäre bitter nötig. Denn das hier ist der Versuch, auf der größten Jugendmesse Europas, YOU, einen Hauch Aufmerksamkeit zu bekommen. Blöd, dass nebenan eine Musikshow die braven Bürger der Zukunft ganz in ihren Bann zieht.
So leicht aber lassen die Gesetzeshüter sich nicht unterkriegen. Mit einem Wettbewerb für Graffiti auf Zeichenpapier und Drogenaufklärung halten sie dagegen. Vergeblich. Meik Schulze vom Berliner Drogennotdienst sagt: „Unsere Wasserpfeifen haben gestern viele Kids angelockt. Aber gegen Tokio Hotel sind wir machtlos. Bei dieser Lautstärke ist Kommunikation sowieso unmöglich.“ Recht hat er.
Als nur das Schlagzeug der Chart-Überflieger auf die Bühne geschoben wird, erreicht der Lärm bereits erstaunlich hohe Frequenzen. Die Jungen von Tokio Hotel sind seit ihrem Hit „Durch den Monsun“ die Nummer eins bei den Teenie-Girls. Heute spielen sie ihren neuen Song „Schrei“ und fassen das Motto dieser Messe damit einfach zusammen: Die jungen Besucher schreien alles an, was auf einer Bühne steht, und schreien außerdem, um T-Shirts und Schlüsselbänder abzustauben. Die Moderatoren schreien, damit man sie hört. Überhaupt: Wer am lautesten schreit, macht das Rennen um die Gunst der Kids.
Der Deckmantel des guten Willens ist dabei meist nicht mehr als eine zarte Hülle. So wirbt die Dresdner Bank mit dem Angebot, am Messestand einen „Webführerschein“ ablegen zu können. In Wahrheit besteht für dieses Angebot laut Mitarbeiter Gunther Schilling jedoch „null Interesse“, das sei der Bank auch klar. Die Jugendlichen nutzen die Internetzugänge lieber, um selbst loszusurfen. Das kann in diesem Alter sowieso jeder. Trotzdem suchen die Bankberater das Gespräch – um auf das Jugendkonto hinzuweisen.
Noch subtiler ist die Marketingstrategie der Aufklärungskampagne „Love & Care“: Per Fragebogen wird das Wissen über Sex und Verhütung geprüft. Als Zeichen der Solidarität unter jungen, aufgeklärten Menschen wird dann das Tragen eines roten Armbands empfohlen. Der Euro, den das Band kostet, geht direkt an Aufklärungsprojekte des Dortmunder Sozialpädagogik-Instituts. Schließlich soll die steigende Zahl der Teenager-Schwangerschaften wieder gesenkt werden. Ein Gewinnspiel gibt es nicht. Doch letztlich zählt für das Unternehmen Jenapharm, das hinter der Aktion steht, nur eins: die eigene Antibabypille zu verkaufen.
Auch wenn es schwer fällt, daran zu glauben – irgendwo in diesem Irrgarten des Konsums soll es sie geben: die Oase der Ruhe. Einen Ort, an dem die „ernsten Themen“ Vorrang haben. Der Weg dorthin ist noch mal ein kleines Abenteuer: Streetdance Contest, Indoor Soccer, Skater Park. Die Sternchen aus „Verliebt in Berlin“, der Mann von Sarah Connor. Am Stand der Bundeswehr ein kurzer Stopp. Hier wartet das Gewinnspiel mit den besten Preisen: „Fünf Tage bei den Gebirgsjägern mit Skilaufen, fünf Tage bei der Kampftruppe mit Panzerfahrt, fünf Tage bei der Luftwaffe auf Sardinien.“
Als der vermeintliche Hort der Stille, die „Schüler-Lounge“, erreicht ist, sind die Vorträge dort bereits vorbei. In dem provisorischen Raum, der mit seinen dünnen Wänden aussieht wie ein Schuhkarton, steht Matthias Ehrhardt. Der Lehrer aus Köln will die Jugendlichen mit Informationen über Praktika, Auslandsaufenthalte oder Unternehmensgründung zukunftsreif machen. Die Hoffnung auf Ruhe aber wird enttäuscht. Die Bässe der großen Bühnen wummern ungedämpft durch den Schuhkarton. „Ich weiß auch nicht, eigentlich sollen wir die Lautstärkehoheit in dieser Halle haben, aber irgendwie übertönen uns heute alle“, sagt Ehrhardt.
Leiser wird es erst jenseits des Messeausgangs. Auf dem Weg zur S-Bahn-Station lässt der Hype auch bei den Teenies langsam nach. Aber der Reflex, alles Kostenlose gierig einzustecken, der ist noch da. Sehr zur Freude der alten Dame, die mit zittrigen Händen Weltuntergangsflugblätter der „Siebentags-Adventisten“ verteilt. Jeder braucht die Erwachsenen von morgen.