Immer freundlich lecken

Tanz Überspannte Körper: Der Extremchoreograf Jeremy Wade entwirft in seinem Stück „Drawn Onward“ im HAU eine Wunschmaschine für eine Ästhetik der Entgrenzung

Immer rundherum im Kreis mit „Drawn Onward“: Jeremy Wade himself in seiner Wunschmaschine Foto: Dorothea Tuch

von Astrid Kaminski

Schön ist weder die Bühne von Jeremy Wades jüngstem Stück „Drawn Onward“ im HAU 3 noch die darauf praktizierte Sexualfitness. Beides ist gut gemacht. Aber was macht es für einen Unterschied, ob etwas schön oder gut gemacht ist? Hier fangen die Divergenzen schon an, mit denen der Choreograf, der zu den widerständigsten und philosophisch informiertesten der Berliner Performanceszene zählt, sein Publikum konfrontiert.

Er entwirft Zustände, die Nähe herstellen wollen, aber Distanz schaffen, und andersherum. Die Zuschauenden sind in diesem Akt Verbündete wider Willen. Ihre Hingabe an den Glücksspielmechanismus des Theaters wird gleichzeitig ernst genommen und ausgenutzt.

Wade hat sich vielleicht schon immer als Dienstleister im Sinn einer Publikumsselbstbestätigung gesehen, und diese Rolle mit mal mehr, mal weniger ­Ironie eingelöst. In früheren Stücken gab es zunächst eine Art Sensibilisierungspädagogik, um eine größere Nähe zum Produkt auf der Bühne herzustellen. „Together Forever“ vom Vorjahr war das empathischste seiner Stücke, in dem er, im Team mit Kollegen, für das Publikum Wünsche des Zusammenlebens choreografierte.

Sein Solo „Death Asshole Rave Video“ brach dann vollständig mit ­Identifizierungsangeboten, formal jedoch servierte es perfekt getrimmtes und getimtes Entertainment. Da ging es im Stil eines extremen Fetischkapitalismus um die Grenzen des Konsumierbaren, um den Umschlagpunkt von Reizerfüllung in Gewalt. Um eine Industrie des Todes, in die ein Turbokapitalismus, in dem immer das eine Produkt vom anderen, der eine Affekt vom anderen, überboten wird, zwangsläufig führen muss.

Queere Science-Fiction

Zur Vorbereitung seines aktuelles Stücks hat Wade dann in Zusammenarbeit mit dem HAU und der Kunsthistorikerin Kerstin Stakemeier eine Lesegruppe ins Leben gerufen, die sich in fünf Sitzungen mit Herleitungen und Ideen zu queerer Science-Fiction beschäftigte. „Drawn Onward“ ist nun, wie schon der vorwärts wie rückwärts zu lesende Titel vermuten lässt, ein geschlossenes System: eine ­Zukunft produzierende Gegenwart und eine Wirklichkeit ­produzierende Wunsch­maschine, wie sie Guat­tari und Deleuze in ihrer Psychoanalysekritik ­„Anti-Ödipus“ entworfen haben.

Die Ästhetik der Bühne steht für eine Mischung aus Messestand und Sportstudio: ein Tresen mit Logo, eine Präsenta­tions­fläche, auch mit Logo: ein Kreis in Blau-Grün-Verlauf, der in seiner formalen Strenge und mit seinen kalten Farben klinische Sterilität ausstrahlt und mit seiner eingeschlossenen Freifläche gleichzeitig ritualistische Erwartungen aufruft. Hinter dem Tresen steht der Performer Marc Lohr, der sich als eine Mischung aus Personal Trainer und Therapeut erweisen wird, im Innern des Logokreises ist Jeremy Wade an eine anal-orale Maschine angeschlossen. In Tierhaltung leckt er, in verschiedenen Tempostufen, vorne einen beachtlich großen Dildo, während die Maschine ihn von hinten bearbeitet.

Die Message dieses Anfangsbilds, das etwa zehn Minuten dauert, ist so klar wie seine Methode provokativ: Hier wird das Subjekt zum Objekt seiner Erfüllungsoptimierung. Effekt wird zu Affekt und wieder zu Effekt wie Angebot zu Bedürfnis und Bedürfnis zu Erfüllung.

In einem späteren tranceartigen Monolog definiert Wade „Drawn Onward“ als „Jetzt auf Crack“, als „stroboskopische Disco im Exzess des Codes“, als „korporativer körperlicher Bewältigungsmechanismus“. Diese poststrukturalistischen Sprachspiele sind Teil seiner Ästhetik, und sie sind in diesem Fall stärker als die Bilder, die noch kommen und die in ihrer Raumverteilung kaum choreografische Finessen zum Einsatz bringen. Im Wesentlichen laufen sie in unklarer Handhabe darauf hinaus, anhand von Tools zur Selbstoptimierung ein zwanghaft rituell geprägtes System zu spiegeln, in dem es keinen Unterscheidung von Nützlichem und Notwendigen mehr gibt.

Des Pudels Kern

Das ist bei Wade weder gut noch schlecht, sondern in erster Linie anstrengend. Sein Körper ist überspannt, teilweise so weit, dass rein vegetative Reflexreaktionen einsetzen. Sein Motto „We align with life“ ist alter­na­tiv­los. Das klingt verdammt vertraut. Nur hätte es am Ende etwas mehr als einen Pudelkopf aus Rasierschaum gebraucht, um das Szenario des Anfangsbilds aufzuwiegen. So kam erst des Pudels Kern und dann der Pudel.

„Drawn Onward“ heute, am Samstag, 20 Uhr, im HAU 3, Tempelhofer Ufer 10