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Archiv-Artikel

Traumlärm auf großer Welle

GARAGE Die Raveonettes begeistern beim Konzert in erweiterter Besetzung im Lido durch konsequente Formensprache, brachialen Lärm und mildes Posing

Ein gewöhnlicher Montagabend im Dezember. Kalte, leere Straßen. Vor dem Lido hat sich eine kleine Schlange gebildet. Ein junger Mann steckt einen blauen Schein durch eine Durchreiche und geht durch die Tür. Ein anderer sagt seinen Namen auf und folgt. Hinter der Tür kommen unvermutet Fragen auf: Warum ist es so voll? Was wollen all die Leute hier, es spielen doch nur die Raveonettes? Wieso ist die Vorband so grauenhaft? Mit Rockposen, die vor 20 Jahren auch schon grauenhaft gewesen wären. Und warum ist das Bier schon wieder teurer geworden?

Die Raveonettes sind ein Paar aus Dänemark, das an diesem Abend zu Quartettstärke angewachsen ist, also mit Bassist und Trommler am Bobby-Gillespie-Gedächtnis-Schlagzeug. Das Paar nennt sich Sune Rose Wagner und Sharin Foo. Die Raveonettes machen seit Anfang des Jahrtausends Garagenrock im Stile von Jesus & Mary Chain mit großen Bezügen bis tief in die Sechzigerjahre hinein. Besonders Gitarrist Wagner muss meterweise Surfplatten zu Hause stehen haben, und er kann sie bestimmt auch alle auf seiner Rickenbaker mit Tremolo und ohne nachspielen. Sharin Foo ist nur dem Aussehen nach ein singendes Blondchen. Als Wagners Widerpart drischt sie ebenfalls munter auf eine Gitarre. Der Bassist spielt Schleifen, mal verzerrt, mal nicht, der Trommler ist präzise. Am Montagabend im Lido, Berlin-Kreuzberg, sind die Raveonettes aus Dänemark für eine gute Stunde die beste Band der Welt.

Denn sie können alles. Zuckersüße Popsongs, stumpfe Stampfer, die auf einem Riff gebaut sind, Hall kathedralenweise, die kleine Melodie, das bitterböse Feedbackgewitter. Sie können Surf, als ob Venice Beach schon immer auf Seeland gelegen hätte. Sie können die schnuckelige Sixtiesballade, und anschließend spielen sie ganze Garagenwelten kaputt. Und, was am allerbesten ist, sie können sogar leichten Wave-Einschlag. Was die Hälfte der Zuschauer erklärt, die recht aufgestylt daherkommen. Männer in engen Jeans und Frauen mit haarscharfen Ponys. Und noch besser als der Wave-Einschlag: Die Krachmelancholie, die vor allem ihre vorletzte und wie ich finde beste Platte beherrscht, die ausgerechnet „Lust Lust Lust“ heißt und die erste auf kleinem Label nach dem Gastspiel bei Columbia war. Ein tolles Album. Und von diesem tollen Album gibt es tollerweise auch die meisten Stücke.

Waren die Vorgängerplatten nämlich immer ein wenig zu sehr darauf bedacht, wild und zotig im Sinne von Pulp Fiction, Tätowierungen, Stinkefingern und Sonnenbrillen in arktischen Nächten zu sein, hat „Lust Lust Lust“ mehr Tiefgang, mehr Mollakkorde, mehr Regen, mehr Trauer. Verzagtheit, Zweifel, Einsamkeit in Großstädten und der einfache Wunsch, mit dem Schwarm durch Landschaften zu spazieren. „I fell out of heaven/ to be with you in hell/ My sins are not quiet seven/ nothing much to tell.“ Dazu alle Verzerrer auf und die große, tragische Welle gesurft. Eine Sinfonie mit eintausend überdrehten Staubsaugern.

Inzwischen haben The Raveonettes drei weitere Platten veröffentlicht. Zwei EPs, eine davon mit Weihnachtsliedern. Und soeben das Album „In And Out of Control“, das wieder einen Schritt in Richtung Traumlärm und Tinnitus macht. Aber was kümmern einen die Ohren, wenn der Lärm so schön ist.

Der Mischer hat natürlich etwas gebraucht an diesem Abend. Die rauschhaften Momente werden durch Stroboskopeinsatz verstärkt. Ansonsten müssen die vier in ihren eher ausgeleiert aussehenden Klamotten nicht viel mehr machen als spielen. Und das können sie. Sogar noch um einiges druckvoller als auf den Platten. Draußen bleibt es kalt und dunkel, aber das macht nichts, der Soundtrack zur Jahreszeit wurde ja gerade gefunden. RENÉ HAMANN