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Archiv-Artikel

Übungen in Migration

LEITKULTUR UND TABUBRUCH Im Haus der Kulturen der Welt diskutierte eine hochkarätige Runde über das Schweizer Minarett-Verbot. Dabei wurden nicht nur Unterschiede zwischen Schweizern und Deutschen deutlich

Einig waren sich alle auf dem Podium, dass hier ein europäischer Wertekonsens gezielt gebrochen wurde

VON DANIEL BAX

Irgendwann platzte Navid Kermani der Kragen. „Statt über den Rechtspopulismus reden wir jetzt wieder über den Islam“, klagte der Publizist aus Köln. Dazu sei er jederzeit gerne bereit, auch zur Kritik an Muslimen. Aber nach dem Erfolg des Minarett-Plebiszits in der Schweiz müsse es doch, fand er, eigentlich um etwas anderes gehen.

Im Haus der Kulturen der Welt fand sich am Montagabend eine hochkarätige Runde aus Politik und Publizistik zusammen, um über die Folgen des Schweizer Entscheids zu debattieren. Der Historiker Michael Wolfssohn machte dabei „Alltagserfahrungen“ für das Schweizer „Angstvotum“ verantwortlich. Ein Teil der Mehrheit fühle sich durch eine Minderheit bedroht, mahnte er, und diese Ängste müsse man „ernst nehmen“. Die Verfassungsrechtlerin Susanne Baer von der Humboldt-Universität zu Berlin widersprach: es gehe hier nicht bloß um Ängste, sondern um Ängste, die gezielt mobilisiert würden – eine feine Unterscheidung, die der Moderator, der linksliberale Schweizer Star-Journalist Frank A. Meyer, nicht ganz nachvollziehen konnte oder wollte.

Endlich entzaubert

Wie Meyer fühlte sich auch der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg angesichts des „peinlichen Themas“ in eine Verteidigungshaltung gedrängt. „Irgendwann musste die Entzauberung ja stattfinden“, stöhnte der Literat und erinnerte daran, dass es nicht zuletzt aufgrund der direkten Demokratie in der Schweiz so lange gedauert habe mit dem Frauenwahlrecht, das erst 1971 eingeführt wurde. Bis 1960 sei eine Mehrheit der Schweizer Frauen gegen das Frauenstimmrecht gewesen, darunter auch seine Mutter: „Sollen wir den Männern das auch noch abnehmen?“, habe sie immer gesagt.

Einig waren sich die Debattierer darin, dass der Schweizer Entscheid einen „Tabubruch“ (Kermani) darstellt: „Zur europäischen Kultur gehört, dass Minderheitenrechte nicht zur Disposition stehen“, betonte Norbert „Leitkultur“ Lammert unter Applaus und plädierte aus diesem Grund für die verfassungsgerichtliche Vorprüfung von Plebisziten. Auch Susanne Baer warnte davor, das Thema zu relativieren, nach dem Motto: „Minarett ist doch nicht so schlimm“. Das Thema, um das es gehe, sei vielmehr Europas Umgang mit „religiösem Pluralismus“.

Offen blieb, was sich aus dem „Angstvotum“ der Schweizer auf deutsche Verhältnisse übertragen lasse. Kermani war der Einzige, der einen Bogen zu vergleichbaren Debatten in Italien, Holland und Österreich zog, wo überall rechte Parteien mit islamfeindlichen Parolen reüssieren. Und er lobte die deutsche Union, die sich zwar spät mit der Einwanderung abgefunden habe, aber dafür nun offensiv versuche, eine konstruktive und offensive Antwort zu finden. Norbert Lammert nahm das Lob gerne auf und bekannte, die Debatten hätten auf allen Seiten einen „gewaltigen Klärungsbedarf“ gebracht. Zur Bestätigung verwies der aus Bochum stammende CDU-Politiker auf die neue Moschee in Duisburg, die mit großem Konsens gebaut worden sei: das Ruhrgebiet sei eben besonders „migrationsgeübt“.

Auch in Berlin-Pankow oder Köln sind Moschee-Neubauten auf Widerstand gestoßen, aber die Union ist deutlich um Abstand zu betont islamfeindlichen Bewegungen bemüht. Sind die Schweizer also einfach zu wenig „migrationsgeübt“?

Im Vergleich zu Baer, Lammert, Wolfssohn und Kermani wirkten die beiden Schweizer Muschg und Meyer am Montagabend über weite Strecken wie zwei Nachhilfeschüler, die – aus Schläfrigkeit oder schlichtem Desinteresse – nicht ganz auf dem aktuellen Stand der Debatte zu sein schienen. Dazu passte, das Frank A. Meyer den neben ihn sitzenden Kermani penetrant als „Betroffenen“ anredete. Worauf Kermani nur antwortete: „Wir sind alle betroffen. Ich bin Europäer, und hier ist ein europäischer Wertekonsens gebrochen worden.“ Man hatte nicht den Eindruck, dass alle dies verstanden hatten.