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Archiv-Artikel

Ein Drama aus dem Nichts

Nachher wollen es alle gewusst haben – dabei war am Anfang des Tages der Rückzug des Parteichefs nicht abzusehen

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Hinterher haben es natürlich alle gewusst. „Ich kann die Naivität mancher hochrangiger Sozialdemokraten nicht verstehen“, sagte Joachim Poß, und der Finanzexperte der SPD-Fraktion warf dabei einen Blick zum Himmel, als habe er gerade ein 100-Milliarden-Loch im Haushalt entdeckt. „Hier haben Leute entschieden, ohne das Ende zu bedenken“, sagte Ludwig Stiegler, der Fraktionsvize, der gern die alten Römer zitiert, und natürlich hatte er auch für diese Situation den passenden Spruch parat: Respice finem. Eben: Bedenke das Ende. Dann nannte Stiegler das, was gerade passiert war, „einen Unfall“, und weil er nicht mehr zu bremsen war, schob er noch einen bildermächtigen Satz hinterher: „Manche haben mit dem Feuer gespielt, und nun brennt es.“

Das waren Reaktionen, die dem, was sich ein paar Minuten zuvor im SPD-Vorstand zugetragen hatte, eine gewisse zwingende Notwendigkeit unterlegen wollten. So nach dem ganz schlichten Motto: Es war doch klar, dass das passieren musste. Dass ein Votum für Andrea Nahles als neue Generalsekretärin den Parteivorsitzenden Franz Müntefering desavouieren würde. Dazu muss man jetzt wieder wissen, dass die beiden oben genannten Genossen von vornherein nicht zum Freundeskreis von Nahles gehörten. Aber das war an diesem Montagnachmittag schon die Frage aller Fragen: Musste das alles so kommen? Musste der Tag, der ein besonderer für die SPD werden würde, so viel stand ja fest, mit diesem Drama enden?

Musste er nicht – diese Antwort muss erlaubt sein, auch wenn sie viele in der SPD jetzt nicht hören möchten, und in den Medien vermutlich auch nicht, weil ja dort genauso wie in den Parteien einfache Wahrheiten gut ankommen. Aber eine ganz einfache Wahrheit ist auch, dass niemand diesen Quasirücktritt am Morgen dieses Tages auf dem Zettel hatte, kein führender Genosse und keiner der vielen wichtigen Hauptstadtjournalisten, im Gegenteil. Sicher, dass die Kampfabstimmung um den Posten des neuen Generalsekretärs zwischen dem Müntefering-Vertrauten Kajo Wasserhövel und der Parteilinken Andrea Nahles spannend werden würde, war nach der Entwicklung der letzten Tage abzusehen. Aber dennoch schien für die meisten klar, dass sich Wasserhövel gegen Nahles knapp durchsetzen würde. Ihr wichtigstes Argument hatten viele Vorständler beim Eintreffen am Willy-Brandt-Haus den Journalisten noch einmal in die Blöcke diktiert. Der scheidende Finanzminister Hans Eichel hatte es so auf den Punkt gebracht: „Müntefering muss ohne jede Einbuße an Autorität die Koalitionsverhandlungen führen können.“ Wasserhövel schien plötzlich ein riesiges Symbol zu sein: seine Wahl überlebenswichtig für die SPD, für die große Koalition, für das Land.

Um 14.50 Uhr schlug die erste Überraschung unter den wartenden Journalisten ein: Nahles hat die Kampfabstimmung mit 23 zu 14 Stimmen klar für sich entschieden. Ungläubiges Kopfschütteln. Zwanzig Minuten später ging dann die Bombe hoch: Müntefering will auf dem Parteitag Mitte November nicht mehr als Parteichef antreten. Die Genossen, so erzählen sie später, waren geschockt. Die Journalisten auch.

Als Müntefering vor die Presse trat, sah er blass aus, lange nicht mehr so topfit wie die vergangenen Tage, als alle schrieben, der SPD-Chef, Vizekanzler und Arbeitsminister sei mächtiger als Brandt und Schmidt zusammen. Jetzt gab er eine kurze, knappe Erklärung ab. Dass er in zwei Wochen auf dem Parteitag nicht wieder als Parteivorsitzender kandidiere. Dass er die Koalitionsverhandlungen weiterführe. Dass er aber offen lasse, ob er ins Kabinett eintrete. Geschäftsmäßigkeit sollte das vortäuschen. Bevor Müntefering die kleine Bühne herabstieg, ließ er den Journalisten noch einen Anti-Lafontaine-Satz zurück: „Ich werde nicht weglaufen.“

Zu diesem Zeitpunkt liefen in der Parteizentrale schon diverse Krisenrunden: Warum dieser Schritt? Wer wird jetzt Parteichef? Was wird mit der großen Koalition? Alle riefen sich in Erinnerung, dass die Vorstandssitzung konstruktiv verlaufen sei, „ohne Härten“, wie es ein Teilnehmer formulierte. Müntefering habe deutlich gemacht, dass ihm die Wasserhövel-Personalie wichtig sei, aber er habe keinen Hinweis auf mögliche radikale Konsequenzen gegeben. Möglicherweise hätten ihm die nur 14 Stimmen für seinen Personalvorschlag deutlich gemacht, wie falsch er die Stimmung in der Partei eingeschätzt habe, mutmaßten andere. Aber hatte es in den vergangenen Tagen nicht genügend Signale an den Parteichef gegeben? 23 Stimmen für Nahles – das sei der Beweis, dass sie eine Kandidatin aus der Mitte der Partei sei, so deuteten die Linken das Ergebnis. Und hatte Müntefering am Sonntagabend im Präsidium nicht selbst gesagt, wer die Abstimmung gewinne, solle auf dem Parteitag als alleiniger Kandidat antreten?

Ratlos waren die Genossen, niedergeschlagen. Man wolle jetzt erst einmal in Ruhe nachdenken, sagten viele. In dieser Konfusion zeigten sie sich aber seltsam entschlossen: „Wir stehen zur großen Koalition“, beeilten sich alle Führungsleute zu betonen. Und: „Müntefering muss Vizekanzler bleiben.“ Und: „Wir halten zusammen.“ So Sprüche halt, wenn man nicht weiter weiß.

Irgendwann verließ auch der Mann die Parteizentrale, auf dem jetzt viele Hoffnungen ruhen. „Ich bin der festen Überzeugung, dass Deutschland Neuwahlen nicht zuzumuten sind“, sagte Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck. Das klang nach Führungsstärke, vorgetragen mit Schröder’schem Charme. Der Name Platzeck fiel ja auch oft an diesem Tag, als fieberhaft nach einem neuen Vorsitzenden gefahndet wurde. Ob er Führung übernehmen wolle, wurde der 51-Jährige gefragt. „Ich habe mich vor Verantwortung noch nie gedrückt“, antwortete Platzeck.