ES GIBT ELTERN, DIE BETRACHTEN IHRE KINDER ALS EIGENTUM UND VERBITTEN SICH JEDE EINMISCHUNG – DABEI IST DOCH DIE FAMILIE, WO VERBOGEN WIRD UND MISSBRAUCHT
: Argwöhnisch bewachtes Hoheitsgebiet

Foto: Lou Probsthayn

Fremd und befremdlich

KATRIN SEDDIG

Klar, ich habe selbst eine, die meisten haben eine oder hatten jedenfalls mal eine. Ich stehe der Familie mit gemischten Gefühlen gegenüber, die Familie ist oft ein klebriges Konstrukt. Wir sind gebunden an Menschen, die wir uns nicht ausgesucht haben, wir hätten sie uns vielleicht auch gar nicht ausgesucht, denn sie machen uns fertig; wir teilen nicht ihre Ansichten, wir finden sie oft unerträglich. Aber diese Menschen sind eben da und gehören zu uns. Sie sind unsere Eltern oder Kinder oder Tanten oder Cousins.

Die Familie soll staatlicherseits geschützt werden, sie soll über alles gehen, besonders die Kleinstfamilie Vater-Mutter-Kind: Die ist dem Konservativen heilig, dem Schwulenhasser, dem Frühbetreuungsgegner, dem Abtreibungsgegner oder dem Antifeministen. Die Vater-Mutter-Kind-Familie soll der richtigste Ort für ein Kind sein und auch für erwachsene Menschen, für Menschen überhaupt. Menschen sollen sich fortpflanzen, in Maßen, und dann sollen sie sich in dieser kleinen Zelle für immer gegen die Außenwelt abschließen, um dem Auftrag der Kinderbetreuung nachzukommen.

Dass in der modernen Welt solche intakten, nicht geschiedenen Familien immer seltener werden, sieht mancher als Ursache für fast alles Schlechte in der Gesellschaft an. Dabei ist doch gerade die Familie ein Hort der körperlichen und psychischen Gewalt, des Missbrauchs und der Unterdrückung.

Mir würde noch mehr einfallen, wenn ich noch mehr über diese liebe, alte Einrichtung nachdenken würde. Wie gesagt: Ich kann mich, so wie auch sonst kaum einer, nicht aus der Familie befreien, nämlich meiner eigenen. Da ich selbst Mutter und Kind bin, unterdrücke und beeinflusse ich auch und habe mehr Macht über meine Kinder und meine Familienangehörigen, als sonst irgendein anderer Mensch, der nicht mit ihnen familiär verbunden ist. Deshalb weiß ich, dass es schwer ist, da rauszukommen. Am Ende kann man vielleicht etwas aufkündigen, aber den Folgeschäden entkommt man kaum.

Familien sind so seltsam wie undurchschaubar, ihre Strukturen meist nur den Eingeweihten verständlich, dem inneren Kern. Was innerhalb einer Familie normal ist, Alltag, scheint Außenstehenden manchmal skurril oder sogar kriminell. Eltern empfinden ihre Kinder oft als ihr Eigentum. Sie schüchtern sie ein , verbiegen sie, verhätscheln sie, machen sie zu Mördern oder zu Duckmäusern. Eltern glauben, dies alles wäre ihr Recht und niemand, jedenfalls nicht die Gesellschaft, hätte ein Anrecht, sich einzumischen. Deshalb reagieren Eltern oft so empört, wenn sie kritisiert werden, selbst dann, wenn es zu Vorfällen gekommen ist, in denen sie nachweislich gefehlt haben.

In Hamburg stand gerade ein Vater vor Gericht, angeklagt wegen fahrlässiger Körperverletzung und Verstoßes gegen das Waffengesetz: Sein Sohn hatte sich mit seiner, also des Vaters Waffe in den Kopf geschossen. Der Vater soll sich im Gericht desinteressiert gezeigt haben, mit dem Handy gespielt und keine Einsicht in ein Fehlverhalten gezeigt haben. Ich kenne die Familie nicht. Ich kann nur Vermutungen anstellen über das, was da passiert ist.

Ich denke, dass eine Kleinstfamilie kein besonders geschützter Raum ist, dass, im Gegenteil, in ihr die einzelnen Mitglieder mehr abgeschottet sind als in größeren Verbänden; dass sie darin mehr ausgeliefert sind: der Willkür und den charakterlichen Schwächen, besonders die Kinder. Es gibt keinen Grund, dieses Modell des Zusammenlebens zu bevorzugen. Je offener und vielfältiger aber eine Gemeinschaft ist, nennen wir sie Familie, je mehr sie aus selbstgewählten Freunden und echten Liebespartnern besteht, je weniger sie einem Zwang oder einem (Ehe-)Vertrag folgt: um so größere Chancen haben alle Beteiligten, sich zu entwickeln, und sich auch gegenseitig zu korrigieren.

Nicht nur die Kinder.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen