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Archiv-Artikel

Bettina Gaus über Fernsehen Erbleicht in alle Ewigkeit

Das Fernsehen macht uns zu Zeugen der SPD-Krise – zu zweifelhaften Zeugen

Andrea Nahles – die Frau, deren Ambitionen den SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering zu Fall gebracht haben – sitzt in einem Auto. Blickt starr geradeaus. Sagt kein Wort. Aus dem Off erfahren die Zuschauer, sie sei für niemanden zu sprechen gewesen. Soll heißen: zumindest nicht für Journalisten.

Ihr Rivale Kajo Wasserhövel wird von hinten gezeigt, wie er gemeinsam mit einer Mitarbeiterin ins unbekannte Nichts hinabsteigt. Um es ein wenig präziser zu formulieren: Er begab sich in eine Tiefgarage. Aber die Symbolik des Bildes ist allzu stark, als dass die Zuschauer eine derart profane Deutung im Gedächtnis behalten könnten.

Auftritt Franz Müntefering. Ungewöhnlich bleich sieht er aus, befinden Beobachter, und sie stellen die Frage in den Raum: Hat nicht seine Stimme ein ganz klein wenig gezittert? Und blieben seine Hände eigentlich ruhig? Spätestens wenn man den immer gleichen Ausschnitt zum fünften Mal in einer der zahlreichen Nachrichtensendungen gesehen hat, dann ist man ziemlich sicher: Ja, Stimme und Hände haben gezittert. Und er war auch tatsächlich erschreckend blass.

Was für einen Eindruck von den Ereignissen hätten die Deutschen wohl gewonnen, wenn bundesweit der Ton ausgefallen wäre, sie aber weiterhin mühelos die Farbgebung an ihrem Fernseher hätten verändern können? Wenn Müntefering also ein bisschen weniger bleich gewesen wäre? Die Frage muss unbeantwortet bleiben. Der Ton ist ja nicht ausgefallen.

Das Fernsehen ist ein – scheinbar – unbestechlicher Zeuge. Egal, wie die Entwicklung weitergeht: Für alle Zeiten wird Müntefering an diesem historischen Tag erbleicht sein, Andrea Nahles erstarrt und Wasserhövel im Orkus verschwunden. Weil das Publikum keinem anderen Sinnesorgan in vergleichbarem Maße vertraut wie dem Auge.

Lippen können lügen, das Ohr kann getäuscht werden. Das weiß die Öffentlichkeit inzwischen aus leidvoller Erfahrung. Nur auf die eigene Sichtweise verlässt sie sich noch immer, allen nachgewiesenen optischen Täuschungen zum Trotz. Der Glaube an das, was man „mit eigenen Augen gesehen hat“, scheint unauslöschlich zu sein. Zumal dann, wenn Fachleute erläutern, was genau das eigentlich gewesen ist.

In den letzten Tagen hat sich wieder einmal gezeigt, wie sehr das Medium Fernsehen die Meinungsbildung der Öffentlichkeit behindert. Sie habe auf der Regierungsbank schnell gelernt, dass sie bei Bundestagsdebatten nichts anderes in vergleichbarem Maße beachten müsse wie die Kontrolle ihrer Gesichtszüge, sagt die ehemalige Gesundheitsministerin Andrea Fischer. Wenn sie an der falschen Stelle lachte oder die Stirn runzelte, dann habe sie die Wirkung dieser Geste auch mit noch so vielen Worten niemals entschärfen können.

Ist es das, was wir inzwischen unter Authentizität und Pressefreiheit verstehen? Dass Politiker weniger auf Inhalte als vor allem darauf zu achten haben, dass ihre Körpersprache keine mehrdeutigen Interpretationen zulässt? Was für ein Zugewinn an Transparenz und Demokratie.

Gegen Kajo Wasserhövel, den Wunschkandidaten von Franz Müntefering im Amt des SPD-Generalsekretärs, ist in den letzten Tagen vor allem ins Feld geführt worden, dass er bislang so „blass“ geblieben sei und seine öffentliche Wirksamkeit bezweifelt werden müsse. Im Fernsehzeitalter ein ernstzunehmender Einwand – jedenfalls von Leuten, die niemals gegen die Defizite einer Talkshowdemokratie zu Felde gezogen sind und das auch in Zukunft nicht vorhaben.

Andere sollten dieses Argument nicht benutzen. Und alle sollten sich fragen, ob gesunder Menschenverstand und Mitgefühl für die Beurteilung einer Situation nicht doch bessere Gradmesser sind als Momentaufnahmen im Fernsehen. Diese Kriterien würden Franz Müntefering und sein Verhalten nämlich besser erklären als jedes noch so schöne Fernsehbild. Wie kann man eigentlich einen scheuen Parteivorsitzenden verehren, der Vertraute braucht – und sich dann wundern, dass er ohne Vertraute nicht agieren will?

Fragen?kolumne@taz.deMorgen: Jan Feddersen PARALLELWELTEN