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Archiv-Artikel

Politik baut auf Pension Mutti

Arbeitslose als Abzocker: Auf der Suche nach einem neuen Feindbild haben CDU und SPD nun Jugendliche auf Jobsuche entdeckt, die nicht bei ihren Eltern wohnen. Doch gesicherte Zahlen fehlen

VON ANDREAS WYPUTTA

Nordrhein-Westfalens CDU-Sozialminister Karl-Josef Laumann, nach eigener Einschätzung ein „konservativer Knochen“, liebt deutliche Worte. „Es geht nicht an, dass ganze Schulklassen eigene Wohnungen anmelden, um Anspruch auf Arbeitslosengeld II zu haben“, donnert der Bundesvorsitzende der CDU-Sozialausschüsse im aktuellen Focus. „Ich bin der Meinung, wenn jemand 20 Jahre alt ist und kein Geld hat, kann er eben nicht zu Hause ausziehen.“ Kinder und Eltern müssten wieder füreinander unterhaltspflichtig sein, „Fehlentwicklungen“ der Hartz-Gesetzgebung müssten korrigiert werden, fordert Laumann – ohne Zahlen zu nennen.

Der gelernte Maschinenschlosser fährt damit den gleichen scharfen Kurs wie die meisten Spitzenpolitiker von CDU und SPD. Hatte Wolfgang Clement, SPD-Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Arbeitssuchende pauschal als „Abzocker“ diffamiert und mit „Parasiten“ verglichen, geben sich sich der designierte SPD-Vizekanzler Franz Müntefering oder Hessens Sozialministerin Silke Lautenschläger (CDU) nur verbal moderater. „Explodiert“ seien die Kosten für Hartz IV, klagt Müntefering, der auch nach seinem Rücktritt als SPD-Chef Bundesarbeitsminister werden will. „Wir müssen die Ausgaben um einen zweistelligen Milliardenbetrag reduzieren“, meint auch die Christdemokratin Lautenschläger.

Dabei verfügen Laumann, Müntefering & Co. über keinerlei gesicherte Zahlen. Zwar ist klar, dass die Ausgaben für das Arbeitslosengeld II allein rund 11 Milliarden Euro höher sein werden als von Clement vorausgesagt. Doch noch immer kann das Bundesarbeitsministerium nicht genau beziffern, wie viel Geld insgesamt nach Hartz in die Sozialsysteme gepumpt wird – wichtige Vergleichszahlen fehlen schlicht (siehe Kasten). Grund für die rechnerische Deckungslücke beim Arbeitslosengeld sind vielmehr äußerst optimistische Prognosen Clements: Nordrhein-Westfalens ehemaliger Ministerpräsident war von 5,10 Millionen Hilfsbedürftigen ausgegangen. Tatsächlich sind aber 6,77 Millionen Menschen – Jobsuchende und deren Angehörige – auf das Arbeitslosengeld angewiesen.

Schuld an der Finanzmisere sei die lahmende Wirtschaft und die damit fehlenden Jobs, erklärt auch die Arbeitsverwaltung. „Es beziehen mehr Leute Arbeitslosengeld II als vorgesehen“, sagt Werner Marquis, Sprecher der Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen der Bundesagentur für Arbeit. „Die Konjunktur ist nicht wie erwartet angesprungen, die Lage auf dem Arbeitsmarkt hat sich nicht verbessert.“

Auch Laumanns These der schnorrenden Jugendlichen, die sich auf Kosten der Allgemeinheit massenhaft eine eigene Wohnung verschafften, kann Marquis nicht bestätigen – hätte Laumann recht, müsste der Anteil der so genannten Bedarfsgemeinschaften, in denen nur eine Person lebt steigen. Doch zumindest in Nordrhein-Westfalen sinkt deren Anteil sogar: Bestanden im Februar noch 55,9 Prozent aller Bedarfsgemeinschaften aus nur einer Person, waren es im September nur noch 55,7 Prozent. In Westdeutschland insgesamt nahm die Quote nur um 0,3 Prozent zu. Eine deutliche Zunahme von drei Prozent kann die Arbeitsverwaltung nur in den neuen Bundesländern feststellen. Mit diesen Zahlen konfrontiert sah sich das NRW-Arbeitsministerium trotz mehrfacher Nachfrage nicht zu einer Stellungnahme in der Lage.

„Sozial- wie Christdemokraten wissen entweder nicht, worüber sie reden, oder sie lügen“, glaubt deshalb der Sozialwissenschaftler Thomas Münch. Arbeitssuchende würden zu „Sündenböcken“, um die Inkompetenz der Verantwortlichen zu verschleiern, sagt Münch, ehemaliger Leiter des Kölner Arbeitslosenzentrums KALZ und jetzt Professor an der Fachhochschule Düsseldorf.

Ähnlich argumentieren auch die Hartz-kritische WASG und die Grünen. „Durch diese Ablenkungsmanöver werden Arbeitslose diskriminiert und stigmatisiert“, so Barbara Steffens, sozialpolitische Sprecherin der grünen Landtagsfraktion. „Die Politik wälzt die Verantwortung für falsche Zahlen wird auf die Jobsuchenden ab.“