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Archiv-Artikel

Die Aktivistin

Die 75-jährige Internistin Gertrud Gumlich ist taz-Leserin der ersten Stunde. Es ist eine Mischung aus Mut und Frechheit, die ihr imponiert

von DAVID DENK

Ist das hier noch Berlin? Zwar liegen der S- und U-Bahnhof Heidelberger Platz gleich um die Ecke, doch die Seitenstraße, in der Gertrud Gumlich und ihr Mann Hans-Eckhart seit 32 Jahren in einer Doppelhaushälfte wohnen, ist friedlich wie Bad Harzburg. „Ich wollte nicht auf die grüne Wiese, und mein Mann wollte endlich mal durchschlafen“, erinnert sich die 75-Jährige. Wilmersdorf als Kompromiss.

Es ist Ende Oktober, die Sonne scheint. Zum Interview bittet sie auf den Balkon. „Ich hab die verwegene Idee, dass wir uns raussetzen“, sagt sie, eine damenhafte Erscheinung, dezent geschminkt und gekleidet, und bringt ein Tablett mit blau-weißem Service, Tee und Gebäck.

Gertrud Gumlich ist taz-Leserin seit der Nullnummer. Ihr hat der Mut imponiert, solch ein Unternehmen auf die Beine zu stellen, „diese Mischung aus Mut und Frechheit“. Manchmal habe die taz es aber auch übertrieben. Zum Beispiel, als den Pädophilen ein Forum geboten werden sollte. „Das ging zu weit.“

Gumlich ist eine kritische Leserin. Gelegentlich mischt sie sich auch ein. „Irgendwann habe ich in einem Leserbrief geschrieben, dass ihr langsam mal erwachsen werden könntet.“ Das habe geholfen. „Die taz ist auch für Leute meines Jahrgangs lesbarer geworden.“

Trotzdem – keiner ihrer gleichaltrigen Freunde und Bekannten liest die taz. Selbst ihr Mann nicht. Der bevorzugt den Tagesspiegel. Sie hat noch die Zeit abonniert, er den Spiegel. Am Wochenende wird nach dem Frühstück gemeinsam stundenlang Zeitung gelesen. Am liebsten auf dem Balkon, mit Blick auf ihren kleinen Garten. „Vom Lokalteil der taz kriegt auch häufig mein Mann was ab“, sagt Gertrud Gumlich. Sie findet es erstaunlich, wie stark die Berichterstattung der Blätter auseinander geht. „Unterschiedliche Zeitungen finden unterschiedliche Dinge wichtig.“

Unter der Woche liest sie ihre taz abends – im Bett. Da hat sie Muße. Wie lange es dauert, bis sie über der Zeitung einschläft? „Die Augen fallen nicht der taz wegen zu“, stellt sie klar, „sondern weil es meist reichlich spät geworden ist.“ Damit sie am Morgen noch weiß, was sie schon gelesen hat und was sie noch lesen will, knickt sie die Seiten für den Müll längs. In die anderen macht sie Eselsohren. „Aber ob dass für Ihre Leser so spannend ist?“

Gertrud Gumlich ist Ärztin. Ihre internistische Praxis hat sie schon vor einiger Zeit aufgegeben. „Zurzeit baue ich mein Engagement ab“, sagt sie. Von ihren vielen Aufgaben hat sie nur eine behalten: den Vorsitz im Ausschuss für Menschenrechtsfragen bei der Ärztekammer Berlin. „Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft“, zitiert Gertrud Gumlich Rudolf Virchow, der Arzt und Politiker zugleich war. „Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.“ Schon als Obdachlosenärztin war das ihr Credo. Bis 2003 hat sie einmal pro Woche eine Sprechstunde für Wohnungslose in Kreuzberg und Friedrichshain abgehalten. Auch als die Wende schon Jahre zurücklag, erzählt sie, sei sie noch auf Menschen gestoßen, die noch nie im Westen waren.

Das erinnert sie an ein Erlebnis mit ihrer Vertreterin, der sie die taz hingelegt hat. „Ich wollte wissen, wie die ostdeutsche Kollegin mit diesem West-Gewächs zurechtkommt.“ Gar nicht. Die Frau blieb dem Neuen Deutschland treu. „Offenbar kam sie mit dem Stil der taz nicht zurecht.“ Es klingt, als rätsele Gumlich noch heute über die Gründe. Ihren missionarischen Eifer indes hat das nicht gebrochen. Rund ein halbes Dutzend Abos hat sie in ihrem Leben schon verschenkt.

Das heißt aber noch lange nicht, dass Gumlich, seit 1998 auch Genossenschafterin, mit allen verlegerischen Entscheidungen der taz einverstanden ist. Das Regionalisierungskonzept sollte noch mal überdacht werden, findet sie. „Hamburg hätte auch einen guten Lokalteil verdient.“ Ein Problem, das sich für Gertrud Gumlich nicht stellt. Dafür hat sie ja die taz Berlin.