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Archiv-Artikel

Feuernächte in Clichy

AUS CLICHY-SOUS-BOISDOROTHEA HAHN

„Sie sind hier nicht willkommen, Madame“, sagt der junge Mann. Er lehnt sich auf dem Parkplatz zwischen den zehnstöckigen Wohnblocks an ein Auto. Im Einkaufszentrum nebenan ist die Erste-Hilfe-Station mit Brettern vernagelt. Das Schaufenster des Möbelgeschäfts, das auf orientalische Sofas und Sitzkissen spezialisiert ist, weist Spuren von Kugeleinschlägen auf. „Passen Sie auf Ihren Rucksack auf“, rät der Mann ungebeten, „so was ist hier schnell verschwunden.“ Ein halbes Dutzend Kumpels umringen ihn. Sie grinsen.

In den Alleen und Boulevards von Clichy-sous-Bois, deren Namen an den sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin und an die Kommunardin Louise Michel erinnern, wirbelt der Herbstwind Laub und verkohlte Plastikstücke durcheinander. An den Kreuzungen sammeln sich Männer in nach Generationen getrennten Gruppen. Manche Ältere tragen Vollbärte, bodenlange weiße Hemden und Käppis. Viele Jüngere haben die Kapuzen ihrer Pullover tief ins Gesicht gezogen. Frauen mit Einkaufstaschen huschen vorbei, den Blick auf den Boden gerichtet. Der Asphalt ist an einigen Stellen pechschwarz. Stellenweise wirft er Blasen. Hitzeblasen. Clichy-sous-Bois trägt die Zeichen nächtlicher Straßenschlachten. Ausgebrannte Autos und Garagen. Geschmolzene Müllcontainer. Zertrümmerte Buswartehäuschen. Und Menschen, die nicht wissen, wie es weitergehen soll.

Seit einer Woche wird die Stadt mit Einbruch der Dunkelheit zum Schlachtfeld. Hunderte Polizisten in Kampfuniform stehen hunderten Jugendlichen gegenüber. Am Sonntag explodiert eine Tränengasgranate der Polizei in einem Gebetssaal. Die Gläubigen sind an diesem Abend im Fastenmonat Ramadan zum Gebet versammelt. Sie rennen barfuß auf die Straße, weil keine Zeit ist, in die Schuhe zu schlüpfen.

Am Montag werden drei Jugendliche in Schnellverfahren wegen Steinewerfens zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt. Für ihre Freunde in der Vorstadt sind diese Urteile „eine Provokation“.

Alle Bewohner von Clichy-sous-Bois haben Innenminister Nicolas Sarkozy gehört. Er hat die randalierenden Jugendlichen als „Gesindel“ bezeichnet, als „Flegel“. Und er hat versprochen, die Vorstädte zu „kärchern“, mit Hochdruck zu säubern. Das sind Worte, die wehtun. Sie verletzen auch solche Bewohner, die sich bei Einbruch der Dunkelheit in ihre Wohnung zurückziehen, die Fenster und Türen verriegeln und ihren Kindern den Ausgang verbieten. „Natürlich ist es bitter, wenn man ein Auto verliert“, sagt eine marokkanische Mutter. Aber sie kann die randalierenden Jugendlichen verstehen: „Sie haben keine Arbeit, keine eigene Wohnung, nichts zu tun.“

Ein paar Häuser weiter empört sich die 27-jährige Niang aus Mali: „Wir sind keine Wilden. Wir sind Menschen. Wir verlangen Respekt, wir brauchen keine Polizei.“ Sie steht mit ihrer kleinen Tochter vor dem Eingang zu einem Wohnblock. Je lauter sie über Sarkozy schimpft – „er gießt Öl ins Feuer“ –, desto mehr Kinder und Jugendliche versammeln sich um sie. „Wenn der kommt, grillen wir ihn“, krakeelt ein Junge, der den Stimmbruch noch vor sich hat. Die Frau schiebt ihn zurück. „Heute Nacht gibt es wieder ein Feuerwerk“, drängelt sich ein anderer vor. Sarkozy, der Innenminister der französischen Republik, und die Polizei betrachten diese Grundschulkinder als Feinde.

Bis zum Donnerstag letzter Woche war Clichy-sous-Bois eine Vorstadt wie hunderte andere rund um Paris. Die Hälfte der 28.000 Einwohner ist jünger als 25 Jahre. Ihre Vorfahren stammen mehrheitlich aus Afrika, dem Maghreb und der Türkei. Ihre Arbeitslosigkeit liegt weit über dem nationalen Durchschnitt, ihre Einkommen weit darunter. Der amtierende Bürgermeister ist ein Sozialist. Die zweite funktionierende Institution der Stadt sind die Gebetssäle. Rund 80 Prozent der Anwohner kommen aus muslimischen Familien.

Am Nachmittag jenes letzten Donnerstags im Oktober, der Clichy-sous-Bois in die Schlagzeilen der internationalen Medien gebracht hat, rennen gegen 17.30 Uhr drei Jungen in rasantem Tempo quer durch den Ort. Die drei haben Fußball gespielt. Sie rennen über Straßen und mit Sträuchern bewachsenes Gelände. Bis zu der hohen Mauer mit der Aufschrift „Lebensgefahr“. Dort klettern sie über den Stacheldraht und verstecken sich in dem dahinterliegenden Trafohäuschen aus Beton. Um 18.12 Uhr geht beim Energieversorger EDF der Alarm los. Der 15-jährige Bouna und der 17-jährige Ziad sind tot, „elektrokutiert“. Nur ihr 21-jähriger Freund überlebt schwer verletzt.

Minuten später empfangen Jugendliche die anrückende Feuerwehr und die Polizei mit einem Steinhagel. „Die Kleinen sind von der Polizei verfolgt worden“, sind die Steinewerfer überzeugt, „das war eine panische Flucht.“ Der Innenminister erklärt noch am selben Nachmittag, die Polizei habe zwar kurz vor der „Elektrokution“ eine Personenkontrolle in der Nachbarschaft gemacht. Aber die drei Jungen seien nicht von der Polizei verfolgt worden. Sie hätten sich das bloß eingebildet.

Ab einem bestimmten Alter sind eigentlich alle Jungen in Clichy-sous-Bois „polizeibekannt“. Dafür sorgen die häufigen Personenkontrollen. „Wenn du schwarz bist oder arabisch oder Türke, gehört das dazu“, erklärt ein 17-Jähriger, der seinen Namen nicht nennen mag. Er sitzt an diesem späten Nachmittag auf einer hüfthohen Mauer vor einem Brachgelände. Zusammen mit acht weiteren Jungen in seinem Alter. Jeder von ihnen ist schon kontrolliert worden. Und alle waren schon auf der Wache. „Das dauert vier Stunden“, beschreibt ein 16-Jähriger, „die holen uns beim Fußballspielen oder hier von der Mauer ab. Wollen Papiere sehen. Wer keine dabei hat, muss zur Wache.“ Im Einkaufszentrum von Clichy-sous-Bois erzählt eine blonde Frau, dass ihre halbwüchsigen Söhne noch nie kontrolliert worden sind. Einen Grund nennt sie auch: „Sie sehen europäisch aus.“

Clichy-sous-Bois ist klein. Jeder kennt jeden, und jeder weiß, was der andere tut. Ab und zu kann einer der jungen Männer auf der Mauer auch von einer Arbeit erzählen. Meist von einem Gelegenheitsjob. An diesem späten Nachmittag berichtet ein junger Kurde aus Disneyland-Paris. Er war für zwei Tage engagiert. „Wenn du aus Clichy-sous-Bois kommst, findest du kaum Arbeit. Nach dem Aufruhr hier wird das jetzt sicher noch schlimmer“, klagt der Kurde. Seinen Namen will auch er nicht nennen, „das gibt bloß Ärger“.

Ein schwarzer junger Mann auf einem viel zu kleinen rot-weißen Fahrrad stößt zu der Gruppe. Er hört schweigend zu. „Der große Bruder von Bouna“, sagen die anderen, „das Rad ist von dem Kleinen.“ Nach dem Tod Bounas und seines Freundes Ziad haben deren Eltern die Gesprächseinladung des Innenministers abgelehnt. Für das malische und das türkische Elternpaar ist Sarkozy „unfähig“.

Am Dienstag dieser Woche dann empfing Regierungschef Dominique de Villepin die Eltern. Er hat ihnen die juristische Aufklärung des Todes ihrer Kinder versprochen. Der Innenminister, der seit den Aufruhrnächten in Clichy-sous-Bois in seiner eigenen Regierung unter Beschuss geraten ist, durfte an dem Treffen teilnehmen.

Seit einigen Nächten tauchen in Clichy-sous-Bois bärtige Männer zwischen den Fronten auf. Den Steine werfenden Jugendlichen rufen sie zu: „Geht nach Hause!“ An die Polizisten appellieren sie: „Kein Tränengas! Keine Gummigeschosse!“ Und für die Kameraleute skandieren sie mitten in der Nacht zwischen den Wohnblocks der östlichen Pariser Vorstadt: „Allah ist groß.“ Die Straßenkämpfe gehen trotzdem weiter.

Bei Einbruch der Dunkelheit steigen an diesem Novemberabend Stichflammen in den Himmel über Clichy-sous-Bois. „Es geht los“, stellt ein junger Mann lakonisch fest. Wenige Minuten später verlässt der letzte Bus die Stadt. Auf der Gegenspur fahren Mannschaftswagen der Polizei nach Clichy-sous-Bois.