: Von den Grenzen des Pragmatismus
Der designierte SPD-Parteichef Matthias Platzeck aus Sicht des früheren DDR-Bürgerrechtlers Wolfgang Templin: Platzecks kontrolliertes Arrangement und sein kalkulierter Pragmatismus wurden zum Geheimnis seines Erfolges. Und er verteidigte stets den Schröder’schen Kurs
Eigentlich müssten ostdeutsche Herzen höher schlagen, wenn jetzt Matthias Platzeck als künftiger Vorsitzender der Volkspartei SPD bereitsteht. Mit seiner Biographie verkörpert er unangepasstes Leben in der DDR; als Mitbegründer der Potsdamer Umweltinitiative Argus im Jahre 1988 und der Grünen Liga rückte er 1989 an den Runden Tisch und wurde nach den Wahlen parlamentarischer Geschäftsführer von Bündnis 90.
In dieser Phase wurde er mit allen Dilemmata des bündnisgrünen Politikanspruches konfrontiert, welche die frühere DDR-Opposition, das Neue Forum und die Bürgerbewegung insgesamt auseinander rissen. Konnte der ursprüngliche Oppositions- und Bewegungsansatz mit den Normen und dem Korsett wahltaktischen, parlamentarisch und parteipolitisch orientierten Handelns vereinbart werden? Wie ließ sich der Dialog- und Vermittlungsanspruch des Runden Tisches mit der Machtorientierung politisch professionellen Handelns verbinden?
Platzeck begriff die Unauflösbarkeit einiger dieser Fragen schneller als zahlreiche seiner damaligen Mitstreiter und entschied sich auf seine Weise. Der schnelle und spektakuläre Übertritt in eine der großen Parteien war seine Sache nicht, noch weniger aber der schier aussichtslose Kampf um ein neues Politikmodell, wie ihn etwa Wolfgang Ullmann führte. Den Fusionskampf mit den Westgrünen wollte er nicht führen. Kontrolliertes Arrangement und kalkulierter Pragmatismus, die den entscheidenden Kredit an Unabhängigkeit, Integrität und Glaubwürdigkeit nicht vorschnell aufbrauchten, wurden zum Geheimnis seines Erfolges.
Als parteiloser Minister für Umwelt, Naturschutz und Raumordnung in Brandenburg ließ er sich bis 1995 Zeit, um dann Mitglied der SPD zu werden. Anders als sein SPD-Genosse Stefan Hilsberg, der eine Zusammenarbeit mit Manfred Stolpe ablehnte, und zahlreiche seiner früheren Mitstreiter, die den Finger in die Wunde historischer Altlasten legten, zog sich Platzeck hier heraus. Er spürte, dass Popularität in den neuen Bundesländern und politischer Erfolg in der SPD erneut von einem Arrangement abhingen. Ähnlich wie Wolfgang Thierse verteilte er den Balsam für die gebeutelte Ostseele.
Bei den Hochwassern von Herbst 1997 machte ihn die Rolle des Deichgrafen deutschlandweit berühmt. Zugleich sicherte er damit Gerhard Schröders Wahlsieg. Von den meisten Wählern und Unterstützern der SPD und der Grünen in den alten und neuen Ländern wurde Rot-Grün als eine Chance verstanden, notwendige Veränderungen und Reformen, die Herausforderungen des Aufbaus Ost, so in Angriff zu nehmen, dass die soziale Gerechtigkeit nicht auf der Strecke bliebe. Diese Hoffnung wurde gründlich zerstört.
Spätestens mit der Auflage des Agenda-Paketes machten Schröder und seine Unterstützer deutlich, dass sie vor dieser Aufgabe kapitulierten. Die Ergebnisse ihrer sozialzerstörerischen Reformpolitik beförderten die Stagnation und ließen Rot-Grün an die Wand fahren. In dieser Zeit wurde Matthias Platzeck weder als kämpferischer Vertreter des rot-grünen Projektes noch als Korrektiv Schröders sichtbar. Während ausgerechnet Manfred Stolpe für die Wahrnehmung der Interessen Ost stehen sollte, nutzte er seine Popularität zur Verteidigung des Schröder’schen Kurses und zur Schadensbegrenzung.
Das politische Hasardspiel vorgezogener Neuwahlen und das Personaltheater danach sahen ihn in der Wartehaltung. Jetzt rollte der Ball direkt auf ihn zu und wird die Grenzen seines bisherigen Pragmatismus zeigen. Wenn die große Koalition überhaupt noch zustande kommt, wird sie den SPD-Vorsitzenden und künftigen Kanzlerkandidaten Platzeck vor entscheidende inhaltliche Herausforderungen stellen. Anders als die eingebundenen Koalitionäre wird er der verstörten und innerlich zerrissenen SPD eine Richtung geben müssen. Sie könnte darin bestehen, die Sozialdemokratie im Prozess notwendiger Reformen zum Anwalt des schwächeren Teils der Gesellschaft zu machen, dem bestenfalls paternalistischen Fürsorgeansatz der CDU mit einer konsequenten Gerechtigkeitsvision zu begegnen und die gesellschaftliche Auseinandersetzung darum zu organisieren.
Nach Schröders jähem Abschied fragten ratlose Kommentatoren, wo denn seine letzte Botschaft an Deutschland bliebe. Er hatte keine mehr, so einfach. Ob Matthias Platzeck die Kraft und Konsequenz zu einer neuen Botschaft findet, wird seine Wirkung als SPD-Vorsitzender bestimmen. WOLFGANG TEMPLIN
Wolfgang Templin, 56, war einer der führenden Bürgerrechtler der DDR