Sie wollen streiten lernen

KULTURPOLITIK Kaum eine andere Kunst hat so erfolgreich an ihrer Infrastruktur gearbeitet wie die Tanzszene. Am Wochenende debattierte sie in den Uferstudios über Marktkonformität und ihren Schnee von morgen

Aus dem Rahmenprogramm des „Visionären Wettstreits“: Szene aus „On Tradition (1 Straße – 12 Menschen – 12 Filme)“ von Jo Parkes Foto: Elly Clarke

von Astrid Kaminski

Die Tanzfabrik gehört seit vielen Jahren zu den antriebsstärksten Motoren der Tanzszene in Berlin. Am Wochenende lud sie in den Uferstudios zu einem „Visionären Widerstreit“ der Tanzschaffenden, sieben Stunden lang! Hat die Szene etwa ein Problem? Nein, im Gegenteil, diese Leute haben es fast zu gut mit­einander. Kein einziges ausgewiesenes „Arschloch“ – um Shermin Langhoffs Gorki-Antrittsmotto aufzunehmen –, kein patriarchales Postpotenztheater. Stattdessen engagierte Netzwerker, die sich praktisch ihre gesamte Infrastruktur (Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz, Uferstudios, Sophiensæle etc.) selbst geschaffen haben. Dabei könnte man es belassen, nun aber wollen sie streiten lernen.

Das einzige Problem: Unter den Folgen der Konsenskultur, der Profilierung durch Likes, leidet die nette Tanzszene natürlich erst recht. Sigrid Gareis, eine der elf in die Uferstudios geladenen Visionärinnen, stellt fest: „Konflikt nicht in Sicht“. Immerhin versucht sie es und konstatiert erst einmal eine „Teppichhändlermentalität“.

Worum es geht: Es gibt, unter anderem aus genannten Gründen, in den letzten Jahren einen Boom in der Berliner Tanzlandschaft. Bei verhältnismäßiger Stagnation der Fördermittel führt das allerdings einerseits zur anhaltenden Verschlechterung der Arbeits- und Produktionsbedingungen, andererseits zu einer erhöhten Marktkonformität. Die Hoffnung, die Volksbühne zum Tanzhaus zu machen, ging so nicht in Erfüllung, die Politik hat sich dem tieferen Dialog verschlossen. Status quo: drei hochsubventionierte Opern, fünf Theater, kein Tanzhaus. Nun gibt es mit dem Dachverband Tanz, dem Tanzbüro Berlin, dem Landesverband freier darstellender Künste sowie mittels der generell soliden Szenenvernetzung zwar eine gute Lobbyarbeit. Und die Gelder der diversen (Freie-Szene-)Fördertöpfe gehen zu immer größeren Anteilen an Tanz- und Performanceprojekte. Aber erstens reichen reine Projektgelder nicht, um aus der politischen Marginalisierung heraus zu kommen, zweitens ist die weitaus visionärere Frage, wohin und mit welchem Ziel denn eigentlich (mehr) Geld fließen soll.

Dass eine stärkere Marktorientierung des Tanzes zu künstlerischer Verarmung führt, darüber besteht weitgehend Einigkeit: Gareis fordert ein kollektiv geführtes Tanzhaus mit Modularsystem; der Lichtdesigner und Plattform-Initiator Bruno Pocheron will gut verwaltete Spielorte, die als Gastgeber auftreten, ohne Intendanz und Kuratorium. Sandra Man, Autorin, Künstlerin, Aktivistin der Koalition Freie Szene, stellt sich „Grundlagenforschungsorte“ für Tänzer*innen vor, in denen ergebnisoffen und in der Begegnung mit dem Besucher (anstelle des Zuschauers) gearbeitet werden kann. Agata Siniarska, Choreografin, packt es praktisch an und berichtet von einem Kollektivbrief an Mette Ingvartsen und Boris Charmatz, die zwei von Chris Dercon ab 2017 ins Team der Volksbühne geholten Tanzvertreter. Darin ruft sie zur Zusammenarbeit mit der Berliner Szene auf. Die Choreografin Siegmar Zacharias wünscht sich ein spekulativ geprägtes „Entanglement“, um aus einer „Nebenprodukthaftigkeit“ heraus neue Strukturen zu schaffen.

Unter der Profilierung durch Likes leidet die Tanzszene erst recht

Der Tanzjournalist und -autor Arnd Wesemann fordert Künstler*innen darüber hinaus dringend dazu auf, wieder mehr Eigenverantwortung für ihr Tun zu übernehmen. Das Schreckgespenst heißt für ihn eher Staats- als Marktkonformität. Kunst sei „Ausdruck der Freiheit des Menschen und nicht Ausdruck der Kultur“. Der gemeinsame Nenner: Tanzhäuser als nationalstaatliche Repräsentationsmodelle mit durch die Politik bestellten Intendanten gehören eindeutig nicht zur Vision.

Dabei sind allerdings noch viele Fragen offen. Unwidersprochen bei diesem Konsens bleibt auch ein Kunstbegriff, der sich als Konglomerat aus Kant, Adorno und Geniebegriff erweist: Kunst habe frei zu sein, den Anspruch darauf hat aber nur der, wie auch immer, ausgewiesene Künstler – der überdies noch als gesellschaftliches Modell dient. Zudem sollen bei der Geldervergabe Künstler*innen über Künstler*innen entscheiden, wahrscheinlich weil sie ein zusätzliches Kunstchromosom haben, und das dann auch bei den Kolleg*innen identifizieren können.

Wenn ihr schon nicht über den Horizont kommt, dann bleibt auf dem Boden, denke ich an dieser Stelle. Aber vielleicht sind die Tanzschaffenden hier die besseren Lobbyisten, und es muss der etablierte Kunstbegriff sogar noch überhöht werden, bis der Fördergeldtresor einmal geknackt ist. Erst dann kann das, was in der Szene an gesellschaftlichen Perspektiven und Diversitätspraktiken längst schon lebt, ein entsprechendes Volumen bekommen. Die Tanzwelt muss hier ihren Weg suchen, sie ist gut unterwegs.