: Das Fernweh nach dem besseren Leben in Europa
Kaum Jobs, miese Bezahlung, schlechte Stimmung: Viele Brandenburger wollen einfach nur noch weg. Zum Beispiel ins europäische Ausland. Das hat auch die Bundesagentur für Arbeit erkannt, die mit einem Info-Mobil durchs Land tourt und die Brandenburger weglocken will. Ein Besuch in Rathenow
von RICHARD ROTHER
Europa ist gut für Rathenow. Mindestens einen Kaffee im zugigen Bahnhofsladen wird der französische Student aus Tours trinken. Die erste Etappe seiner Rückreise von Berlin führt ihn an diesem trüben Herbstmorgen nach Hannover zu einem Freund. „Rathenoff“, wie er sagt, ist für den Geld sparenden Regionalbahnfahrer die erste Umsteigestation. Ein gute Viertelstunde wird er hier bleiben – und dabei eine havelländische Kleinstadt verpassen, in der viele eines wollen: weg. Weg nach Europa.
Auf dem Parkplatz an der Schleusenbrücke des Havel-Seitenkanals steht ein großer blauer Truck vom Europaservice der Bundesagentur für Arbeit. Der Truck ist eine Art fahrendes Büro der Hoffnung – der Hoffnung, anderswo einen halbwegs gut bezahlten Job zu finden. Weil es die in Rathenow, wo fast jeder Vierte offiziell arbeitslos ist, schon lange nicht mehr gibt. Allem Stolz auf die traditionsreiche optische Industrie zum Trotz. Zu DDR-Zeiten beschäftigte sie tausende, heute noch ein paar hundert Menschen. An diesem Tag macht der Truck Halt an der Schleusenbrücke in Rathenow, unter der1-Euro-Jobber Laub harken. Tags zuvor war der Truck in Braunschweig, tags drauf wird er in Brandenburg/Havel sein.
In Massen kommen die Rathenower nicht, aber in dem blauen Euro-Büro ist immer was los. Wer kommt, hat viele und oft konkrete Fragen. Wie das in England mit der Rentenversicherung sei, will ein Bauarbeiter wissen. Der Beitrag sei geringer, antwortet die Beraterin, man müsse sich um Ergänzungen kümmern. „So viel Bürokratie“, meint der Mann verärgert. Die Beraterin kontert: „Wenn ein Spanier in Deutschland arbeitet, regelt der Arbeitgeber auch nicht seine Rentenansprüche zu Hause.“
Europa ist nicht einfach. Wenn es konkret wird, beginnen Probleme. In Norwegen zum Beispiel muss der Einwanderer eine Sondergebühr zahlen, wenn er sein Auto mitbringen will – so viel weiß ein interessierter Rathenower schon. Nicht aber, ob sie Krankenpfleger wie ihn suchen.
Jobs im europäischen Ausland hat die Agentur viele anzubieten: Maurer, Fliesenleger, Maler in Österreich, der Schweiz oder den Niederlanden etwa; Call-Center-Agents in Großbritannien oder Irland; Köche, Hotelpersonal oder Touristen-Animateure in den Alpenländern oder am Mittelmeer. Sogar Ungelernte können weg: zum Beispiel als Lagerhelfer in den Niederlanden, für 240 Euro netto pro Woche. Wollen die Brandenburger wirklich weg, würden sie die Jobs kriegen?
Die Rathenower, die den Schritt über die Schwelle des Agenturbusses geschafft haben, wollen weg. Zumindest scheint ihnen der Gedanke nicht abwegig. „Ein paar Kumpels sind schon weg“, schwärmt ein 40-jähriger Maurer. „Einer ist in Schweden, dem geht’s richtig gut.“ Vielleicht werde er auch gehen, schließlich habe er noch keine Familie zu versorgen, sagt er. Aber ganz allein wegzugehen fällt auch ihm schwer – obwohl der Frust tief sitzt. „So kann es nicht mehr weitergehen.“ Seit drei Jahren krepelt er von einem Kurzzeitjob zum Arbeitsamt und zurück, auch das Pendeln nach Berlin bringt nichts. „Da krieg ich 800 oder 900 Euro netto, und 120 gehen schon für die Fahrkarte drauf.“
„Ich will weg“, sagt ein junger Arbeitsloser vor dem Euro-Truck. Wohin sei egal, Hauptsache, das Geld stimme. „Hier gibt es keine Chancen.“ Über 100 Bewerbungen habe er geschrieben, zuletzt als Raumaustatter. Genutzt habe es nichts. Weg will auch eine Friseurin, die sich nach einem Call-Center-Job in Großbritannien erkundigt. Englisch müsse sie schon können, auch wenn sie für den deutschen Markt telefoniere, erfährt sie. „Na, dann muss ich wohl noch üben.“ Was ihr der Besuch im Euro-Truck gebracht habe? „Jetzt hab ich wieder eine Adresse mehr.“ Aber auch nichts Konkretes – außer Fernweh.
Tatsächlich gehen immer mehr Deutsche ins Ausland. Bis September dieses Jahres hatte die Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV) schon 5.000 Menschen in Europa untergebracht, so viele wie im gesamten Vorjahr. Im Vergleich zu den 5 Millionen Arbeitslosen insgesamt nimmt sich die Zahl der deutschen Arbeitsmigranten bescheiden aus, obwohl nicht alle über die ZAV vermittelt werden. Zurzeit seien rund 10.000 offene Stellen im Angebot, sagt Verena Schulz, Sprecherin des Euro-Trucks. Ein Unterschied zur Arbeit in der Arbeitsagentur sei: „Was wir hier vermitteln, ist für die Arbeitssuchenden freiwillig.“ Dies baue Berührungsängste ab.
Auch an einem abgelegenen Asia-Imbiss in der Nähe des Rathenower Kirchplatzes weckt Europa Emotionen. „Mein Sohn lernt Koch, den schick ich sofort ins Ausland“, sagt ein Lkw-Fahrer, der in der Mittagspause eine China-Pfanne verspeist. „Hier wird das doch nix mehr.“ Ein Bekannter sei Fliesenleger in der Schweiz, erzählt der Mann mit leuchtenden Augen. „Der verdient 3.000 im Monat.“
Ein 40-jähriger Arbeitsloser, mit einem klapprigen DDR-Fahrrad anradelnd, will davon nichts wissen. „Ins Ausland will ich nicht.“ Auch zu Hause gebe es immer was zu tun, sagt der Mann und bestellt zwei Curry-Würste und ein Wasser. „Wenn man später aufsteht, ist der Vormittag schnell rum.“ Den verbringt ein anderer Arbeitsloser mit Biertrinken. Schon als die ersten Schulkinder auf dem Heimweg vorbeispazieren, kauft er sich Nachschub.
Im Europa-Truck klärt Arbeitsvermittlerin Ina Rosenow derweil über unterschiedliche Mentalitäten in Europa auf. „Je weiter Sie nach Süden kommen, umso wichtiger wird das Netz der Familie.“ So sei es etwa in Italien kaum möglich, einen hochqualifizierten Job zu finden – „es sei denn, Sie heiraten dort“. In England oder Irland sei der Einstieg leichter, Studenten empfiehlt Rosenow auch, im Call-Center zu starten. „Wer vor Ort Fuß gefasst hat, findet neue Möglichkeiten.“
Aber ist es gut, wenn die, die motiviert und qualifiziert sind, die Region verlassen? Arbeitsvermittlerin Rosenow hält dagegen. „Die wenigsten gehen für immer.“ Die meisten kämen nach ein oder zwei Jahren wieder und hätten dann bessere Chancen zu Hause – so wie zwei Hotelangestellte im Berliner Adlon. Nach der Lehre hatten sie in Berlin nichts gefunden, sind schließlich nach England gegangen. Rosenow: „Ohne diese Erfahrung hätten sie die Stelle in Berlin nie bekommen.“
Gelassen sieht auch der Rathenower Bürgermeister Ronald Seeger die mögliche Abwanderung seiner Bürger ins Ausland. „Mein Sohn ist seit sieben Monaten in Neuseeland, dem geht’s da gut.“ Nicht nur Europa, die Welt ist gut für Rathenow. Weil sie auf ein besseres Leben hoffen lässt.