: „Der Neoliberalismus kämpft ums Überleben“
Der Großversuch marktradikaler Politik in Lateinamerika ist gescheitert, sagt der brasilianische Soziologe Emir Sader. Auf dem heute beginnenden Amerika-Gipfel in Argentinien wird die Isolation der USA auf dem Kontinent deutlich
taz: Herr Sader, zum ersten Mal bei einem Amerika-Gipfel sind die USA klar in der Defensive. Was hat sich in der Region verändert?
Emir Sader: Die Wirtschafts- und die Kriegspolitik der Regierung Bush stecken in der Krise, besonders in Lateinamerika. Mehrere mit den USA verbündete Regierungen sind wegen der Folgen ihrer neoliberalen Politik durch solche ersetzt worden, die eine gewisse Distanz zu Washington einnehmen. Dazu kommt das Scheitern des Mexikaners Vicente Fox, der der starke Mann Washingtons in der Region werden sollte. Brasilien, Argentinien, Uruguay, Venezuela und Kuba setzten auf eine Politik relativer Souveränität und haben einen autonomen Raum von Allianzen begründet. All das hat zur Isolierung der USA beigetragen, ebenso die Kriegspolitik im Irak und in Kolumbien oder die Entsendung von US-Truppen nach Paraguay. So bleibt den USA nur Kolumbiens Präsident Álvaro Uribe als großer Bündnispartner.
Vor allem Venezuelas Staatschef Hugo Chávez bringt Washington zur Weißglut …
Ja, zum ersten Mal gibt es eine Polarisierung zwischen Bush und Chávez in einem für Chávez günstigen Kontext. In Venezuela hat er seine Position gefestigt und die Integration mit Kuba vorangetrieben.
Wie groß ist der Anteil Brasiliens an dieser Entwicklung?
Dass die Freihandelszone Alca nicht wie geplant Anfang 2005 in Kraft getreten ist, ist vor allem ein Verdienst der brasilianischen Außenpolitik. Bei der Integration Südamerikas hat es Fortschritte gegeben, Raum für Allianzen, im Rahmen der WTO-Verhandlungen wurde die Gruppe der 20 Länder des Südens gegründet. Das sind alles Initiativen für eine multipolare Welt.
Könnten die Alca-Verhandlungen wieder in Gang kommen, wenn die USA ihren Markt spürbar für die Agrarprodukte Brasiliens und Argentiniens öffnen?
Nein. Die USA sind ja vor allem an Fragen des geistigen Eigentums interessiert, an Regierungsaufträgen, an einer Reihe von Punkten, in denen Brasilien nicht nachgeben will. Das Alca-Projekt könnte nur wiederbelebt werden, falls Lula im kommenden Jahr verliert. Heute ist es eingefroren.
Wegen ihrer Wirtschaftspolitik wird die Regierung Lula auch aus dem eigenen Lager stärker kritisiert denn je …
Ja, denn sie hat die neoliberale Politik reproduziert. Wegen der Spar- und Hochzinspolitik gibt es kaum Geld für Soziales, in der Gentechnik hat sie die exportorientiertere Vision der Agrounternehmer übernommen. Das ist Lulas großer Fehlschlag, denn diese Wirtschaftspolitik verhindert letztlich, dass er wie versprochen Sozialreformen Vorrang einräumt.
Wegen der Korruptionsaffäre und dem nahenden Wahlkampf wächst die Polarisierung in Brasilien. Wird Lula umsteuern?
Kaum. Er ändert vielleicht seinen Diskurs oder sein Verhältnis zu den sozialen Bewegungen. Fast alle Unternehmer werden einen Präsidentschaftskandidaten der Opposition unterstützen. Lula kann also nur gewinnen, wenn er seine sozialpolitischen Maßnahmen ausweitet. Das könnte zu einer gewissen Umverteilung der bislang für den Schuldendienst eingesparten Mittel führen, hin zu mehr Sozialausgaben. Gegen die mediale Umzingelung kann er nicht viel machen, denn bislang hat er die unabhängigen Medien kaum unterstützt.
Ist Lula also einer der verlässlichsten Partner Bushs in der Region, wie es in Washington jetzt wieder heißt?
Nein, das stimmt nicht. Sicher, wirtschaftspolitisch kann Bush zufrieden sein – besonders wenn man bedenkt, was Lula hätte tun können. Aber außenpolitisch weiß Bush genau, dass Brasilien zu seiner Isolierung beiträgt. Deshalb wird er sich bestimmt sicher für eine Niederlage Lulas im Oktober 2006 stark machen.
Wie beurteilen Sie das Verhältnis der Bürgerbewegung zu Hugo Chávez?
Die sozialen Bewegungen sehen ihn sehr positiv. Die NGOs haben viele Vorurteile, doch selbst sie merken jetzt, dass Venezuela das einzige Land in Lateinamerika ist, wo es große Fortschritte auf sozialem Gebiet gibt, auch bei der Demokratisierung der Medien und der regionalen Integration. Beim nächsten Weltsozialforum in Caracas im Januar 2006 wird die Übereinstimmung wachsen.
Es besteht also keine Gefahr, dass eine so übermächtige Figur die Basisarbeit bremsen könnte?
In Venezuela ist genau das Gegenteil der Fall. Nicht Chávez, sondern das Weltsozialforum hat das Problem, seine Alternative zu formulieren. Wegen dieses Rückstands operiert es in einem politischen Vakuum. Es wird nicht klar, was es für die Welt, für Lateinamerika vorschlägt, was die Demokratisierung des Staates betrifft, die regionale Integration, die Demokratisierung der Medien. In dieser Hinsicht ist Chávez weiter.
Woran liegt das?
Vor allem daran, dass die NGOs nur von der so genannten Zivilgesellschaft aus organisieren wollen. Sie lassen nicht nur wichtige politische Kräfte außen vor, sondern auch strategische Fragen. Die Bündelung der sozialen Kräfte führt nicht automatisch zu Alternativen zum neoliberalen Modell und noch weniger zum Kampf gegen den Krieg.
Nun erhält Chávez für seine „Bolivarianische Alternative für Amerika“ (Alba) kaum Unterstützung von Lula da Silva, Néstor Kirchner oder Tabaré Vázquez aus Uruguay. Warum nicht?
Alba setzt einen Umbau des internen Systems voraus. Ländern, in denen die Multis den Ton angeben, können sich kaum in diese Richtung weiterbewegen. Alba zielt auf eine viel tiefere Integration von ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Systemen. Selbst wenn die genannten Politiker dies wollten, könnten sie es nicht, weil sie große Teile ihrer Volkswirtschaften nicht kontrollieren, etwa das Bankensystem. Wie soll da eine Integration des Bankensystems auf kontinentaler Ebene möglich sein? Bislang haben wir also eine Kombination von Alba und der von Lula angestoßenen Südamerika-Union, also eine viel weniger profunde Integration.
Was erwarten Sie sich von den Diskussionen auf dem Gipfel in Mar del Plata?
Ich hoffe, dass für die ganze Welt der Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen in Lateinamerika klar wird, der verzweifelte Überlebensversuch des neoliberalen Modells und die Kritik an der US-Hegemonie, aber auch das Entstehen von Alternativen, neuen Räumen der Integration, die Konstruktion einer sozialeren Politik. Doch das bleibt schwierig, denn Lateinamerika ist eine sehr instabile Region. Es war das größte neoliberale Versuchslabor, und jetzt erleben wir den großen Kater.
INTERVIEW: GERHARD DILGER