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Archiv-Artikel

Großvater und Mörder

RECHT In Stuttgart erscheint ein Buch über NS-Täter. Ein Anwalt sieht seinen Großvater verunglimpft und klagt. Heute startet der Prozess

AUS STUTTGART INGO ARZT

Wie reagiert man, wenn der eigene Großvater ein NS-Täter war? In Stuttgart erschien in diesem Herbst ein Buch, das über die Stadtgrenzen hinaus Wellen schlägt: „Stuttgarter NS-Täter“ heißt es. Der Journalist Hermann G. Abmayr hat es herausgegeben: „Stuttgarter Bürger haben sich bereichert, haben gefoltert, haben gemordet“, sagt er. Viele Nachfahren der Täter leben noch immer hier.

Am heutigen Donnerstag verhandelt das Landgericht Stuttgart über eine einstweilige Verfügung gegen das Buch. Der Rechtsanwalt Volker Lempp will Abmayr untersagen, es weiter zu vertreiben – aufgrund eines „postmortalen Persönlichkeitsschutzes“. Er beklagt unter anderem, dass sein Großvater Karl Lempp als „Fachmann der Vernichtung“ bezeichnet wird, der für die Ermordung von Kindern verantwortlich gewesen sei. Der Arzt Karl Lempp war während der NS-Zeit Leiter des städtischen Kinderkrankenhaus und stellvertretender Leiter des Gesundheitsamtes Stuttgart.

Die Recherchen zeigen, wie viele Täter nie verurteilt wurden. Im Fall von Karl Lempp zitiert der Autor, Arzt und NS-Forscher Karl-Horst Marquart zahlreiche historische Dokumente. Demnach schrieb der NS-Mediziner Gutachten, in denen er Zwangssterilisationen empfahl. Zudem hat Marquart unnatürlich hohe Todesraten während der NS-Zeit im Kinderkrankenhaus aufgedeckt und Dokumente der getarnten NS-Zentrale für „Kindereuthanasie“ zutage gefördert. Darin erkläre sich Karl Lempp bereit, Kinder mit „erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ zu „behandeln“. Dies seien, so der NS-Forscher, die Termini gewesen, mit denen die NS-Verbrecher organisierte Morde an Kindern in Heimen tarnten.

Enkel Volker Lempp interessiert das nicht. Als Jurist poche er auf eine faire Behandlung seines Großvaters. „Er hat seine Meinung zu Themen gesagt, die ihm beruflich aufgetragen wurde“, sagt Volker Lempp. Mehr nicht. Würde bewiesen werden, dass sein Großvater Kinder gegessen habe, dann sei das eben so. Bis dahin aber gelte die Unschuldsvermutung, zumindest dürfe der Vorwurf der „Kindereuthanasie“ keine Tatsachenbehauptung sein. Entscheidend ist für ihn das Urteil in einem Verfahren von 1947. Karl Lempp wurde als „Mitläufer“ freigesprochen und nie wieder angeklagt.

„In den Verfahren entlasteten sich NS-Funktionäre gegenseitig“, sagt Abmayr. Es gehe nicht um eine juristische Argumentation. Sondern darum, zu recherchieren, zu gewichten und zu einem Ergebnis zu kommen. Wie wolle man sonst NS-Täter benennen? Lempp droht Abmayr und Marquart unterdessen ein Ordnungsgeld von bis zu 250.000 Euro an. Anfang Dezember scheiterte sein Versuch, eine Lesung des Buchs verbieten zu lassen.

Ursula Boger geht mit ihrem Familienerbe ganz anders um. Sie ist Enkelin von Wilhelm Boger, einem der brutalsten Mörder im KZ Auschwitz. Wie Volker Lempp lernte sie ihren Vorfahren nie persönlich kennen. „Auch wenn ich weiß, dass ich selber nicht schuldig bin […], empfinde ich Scham“, schreibt sie in dem Buch. Darin sind über 40 Täter aus allen Gesellschaftsschichten aufgeführt. Unter anderem ein SS-Oberführer „ehrenhalber“: Ferdinand Porsche. Der Journalist Ulrich Viehöver weist nach, wie Porsche als „Hitlers Lieblingskonstrukteur“ und „Kriegsgewinnler“ seine Firma mit wesentlich mehr Zwangsarbeitern aufbaute als bisher angenommen. Die Porsche AG hat nicht geklagt. Sondern gegenüber der israelischen Ha’aretz erklärt, man wolle mit unabhängigen Experten die Firmengeschichte neu untersuchen.