In irritierender Schwebe
Zwischen Ordnung und Rausch: „Samurai“, eine Erzählsammlung aus dem Nachlass des Schweizer Autors und Stadtplaners Hans Boesch
Spötter könnten vorschlagen, diese Art von Literatur unter Naturschutz zu stellen. In „Das Lamm“ beispielsweise jagen schwere Laster am Rande der Alpweiden Bergstraßen hinab, treiben rücksichtslos Mensch und Tier vor sich her. Ein Lamm, das schon verloren scheint, wird im letzten Augenblick gerettet – von einer Frau, einer kinderlosen Gynäkologin übrigens, die sich einem heranbrausenden Ungetüm mutig in den Weg stellt. Und es zum Halten zwingt. Wie? Durch einen spontanen Akt mütterlicher Solidarität: Sie entblößt ihre Brüste und veranlasst so den Fahrer zu bremsen. Wurde schon gesagt, dass das Ganze in unmittelbarer Nähe eines Maria-Bildstocks spielt?
Eine auf den ersten Blick unsägliche Geschichte. Die aber dennoch, man weiß nicht warum, auf eine leise, nachhaltige Weise irritiert. Da hilft es wenig, wenn man erfährt, dass der Autor im Hauptberuf jahrzehntelang als Verkehrs- und Stadtplaner an der ETH Zürich tätig war und sich für neue, dem Zeitgeist gänzlich widersprechende Mobilitätskonzepte engagierte.
Der Geschwindigkeitsrausch entfremde den Menschen von sich und seiner Umwelt, so lautete das beharrliche Memento des passionierten Fußgängers Hans Boesch. 2002, ein Jahr vor seinem Tod, legte er seine Artikel und Essays unter dem programmatischen Titel „Die sinnliche Stadt“ vor. Boesch, 1926 im St. Galler Rheintal geboren, war ein Einzelgänger der Schweizer Literatur. Seit den Fünfzigerjahren untersuchte er in seinen Romanen die Stellung des modernen Menschen zwischen Natur und Technik. Den Respekt der Kritik brachte ihm erst die seit 1988 entstandene Simon-Mittler-Trilogie ein, die in einer geometrischen Zeichensprache ein halbes Jahrhundert Schweizer Geschichte umspannt.
Die jetzt aus seinem Nachlass zusammen mit einem Nachwort Brigitte Kronauers veröffentlichten 16 Erzählungen sind von ungleicher Qualität. Einige wie „Die Vögel“ kranken an einer aufdringlichen Symbolik oder verunglücken aufgrund didaktischer Intentionen. Andere berühren durch ihre Menschlichkeit: In „Der Baum“ sinniert ein Kranführer in eisiger Höhe über einen Kollegen, den von Bronchitis geplagten Schibler, der bei Wind und Wetter mit dem Rad zur Baustelle fährt, und auf den zu Hause eine Familie wartet. Erst am Ende erfährt der Leser, dass auf den Ich-Erzähler, der nach der Arbeit noch auf den Ausleger hinauskriecht, um für die Kinder einen Weihnachtsbaum aufzustellen, niemand wartet. Der studierte Tiefbauingenieur Boesch wusste um die in solchen Arbeitswelten herrschenden Mentalitäten genau Bescheid.
Seine Erzählungen sind in kurzen, prägnanten Sätzen gehalten, entfalten zunächst scheinbar naive Konstellationen, ehe sie ins Irritierende, Rätselhafte umschlagen. Boeschs Personal besteht aus meist einsamen Seelen, die einem ähnlich isolierten Anderen begegnen. Wie in „Der Hund“, in dem der Ich-Erzähler einen mit der Klugheit seines Tieres protzenden Mann trifft. Die spontane Provokation des Erzählers, es gebe Hunde, die rechnen können, führt zur Katastrophe. Der Hundebesitzer versucht prompt seinen Hund mit Schlägen zum Rechnen zu zwingen.
Auf der Suche nach einem Ausgleich von „Raster“ und „Ranke“, von strenger Form und vital wucherndem Erzählen, von Ordnung und Rausch, das Boesch als den sein Schreiben prägenden Antrieb bezeichnet hat, auf jener Suche sind auch viele seiner Figuren. Gleichgültig wie jene Begegnungen enden, in einem Moment des Glücks oder der Trauer, sie führen Boeschs Protagonisten aus der Erstarrung hinaus ins Offene, Schwebende. Wie jenen alten Mann, dessen Schwiegersohn wohl nie verstehen wird, warum er Jahr für Jahr in Israel Urlaub macht, nur um fern des Hotels einem Mann zuzusehen, wie er seine Hühner füttert. „Wo sollte ich denn hingehen?, fragte sein Schwiegervater. Ich kenne mich aus dort unten. Ich bin nicht allein. Der alte Jude redet. Guten Morgen sagt er. Auf Wiedersehen sagt er. Wir verstehen uns. Wir reden miteinander.“ OLIVER PFOHLMANN
Hans Boesch: „Samurai“, mit einem Nachwort von Brigitte Kronauer. Nagel & Kimche, Wien, München 2005. 141 Seiten 15,90 Euro