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Archiv-Artikel

„Eine Autobahn weniger bauen“

Bildungspolitiker aller drei Bürgerschaftsfraktionen streiten über Konsequenzen aus der PISA-Studie – und wollen in frühkindliche Förderung investieren

„Allein aus finanziellen Gründen wird es in zehn Jahren es eine Schule für alle Kinder geben, in der individuelles Lernen im Vordergrund steht.“

taz: Haben Sie die detaillierten Ergebnisse der jüngsten PISA-Studie überrascht?

Anja Stahmann (Grüne): Vieles war schon im Juli bei der Präsentation der ersten Ergebnisse deutlich. Es war klar, dass Bremen den letzten Platz nicht verlassen konnte, dafür war der Abstand zu anderen Ländern zu groß. Was mich aber überrascht hat, war, dass der Bildungssenator als Erfolg gewertet hat, dass Bremen sich verbessert hat. Wir sind aber immer noch letzter.

SPD-Bildungssenator Willi Lemke wertet vor allem als Erfolg, dass die Lücke zu anderen Bundesländern kleiner geworden ist. Herr Rohmeyer, sehen Sie das auch so?

Claas Rohmeyer (CDU): Nein, wir haben schon im Juli gesagt, dass man das alles nicht schön reden darf. Wir wissen seit PISA 2000, dass wir in Bremen ein riesiges Problem haben. Nun ist klar, dass alle Schularten in Bremen auf dem Niveau niedriger eingestufter Schularten in anderen Ländern sind. Das Gymnasium hat das Niveau einer bayerischen Realschule, unsere Gesamtschule das Niveau einer bayerischen Hauptschule. Und da müssen wir den Kurs, den wir als Koalition eingeschlagen haben, weiter fortsetzen.

Karin Kauertz (SPD): Ich stimme meinem Kollegen zu, dass es zu Schönfärberei absolut keinen Grund gibt. Aber, dass wir größere Zuwächse erreicht haben als andere, das ermutigt doch auch. Wir sind auf dem richtigen Weg.

Die Parteien streiten immer über das richtige Schulsystem. Willi Lemke hat die Gesamtschulen gelobt...

Rohmeyer: Das kann man aus den Daten, die wir heute haben, nicht ableiten.

Stahmann: Doch!

Rohmeyer: Die Gesamtschule wurde von der SPD-Bildungspolitik jahrzehntelang mit den Gymnasien gleich gesetzt. Wir haben in Bremen Schulvielfalt im Schulgesetz verankert. Wir brauchen eine Qualitätsoffensive und müssen Vergleichsarbeiten und zentrale Abschlüsse unterfüttern. Als CDU fordern wir einen Bildungskanon, der fest schreibt, was ein Schüler bis zu einem gewissen Schuljahr an Kompetenzen und Lernzielen erreicht haben muss. Vor PISA 2000 hat es auf Seiten unseres Koalitionspartners überhaupt keine Bereitschaft gegeben, irgendetwas zu verändern. Der scheidende Präsident des Senats Henning Scherf hat das mit den Worten beschrieben: „Die Schuld für die PISA-Ergebnisse trägt die jahrzehntelange SPD-Bildungspolitik.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Es geht jetzt darum, das Schulsystem in kurzer Zeit so zu verändern, dass wir langfristig Erfolge haben. Wir haben Schüler in allen Jahrgängen, die gefördert werden müssen.

Kauertz: Na ja, wir müssen vielleicht etwas selbstkritisch sein, aber nicht das ganze System verteufeln. Wir haben Dinge erkannt und korrigiert, indem wir etwa Vergleichsarbeiten zugelassen haben. Sozialdemokratische Bildungspolitik hat auch Erfolge, etwa sozialere Bildungssysteme.

Stahmann: Die CDU sagt, sie will keine Schulstrukturdebatte. Aber genau hier hat die große Koalition gravierende Änderungen vorgenommen. Nach Klasse vier werden die Kinder aufgeteilt. Und da sind sich die PISA-Forscher ja einig, dass dadurch Bildungschancen verschenkt werden – gerade für Migrantenkinder und Kinder aus sozial benachteiligten Familien.

Was ist denn mit den Gesamtschulen? Ist das Konzept nun gescheitert?

Rohmeyer: Es geht nicht darum, dass ein Konzept gescheitert ist. Es ist eine Möglichkeit, in Bremen sein Kind in einem integrierten System beschulen zu lassen. Das liegt in der Entscheidung der Eltern und Kinder. Aber wir müssen uns natürlich anschauen, was in den Gesamtschulen passiert. Wir haben das Abitur nach zwölf Jahren angepackt und über die Sekundarschule gesprochen. Bei der Gesamtschule hat man immer so getan, als wäre alles in Ordnung. Viele Schüler können da nicht nach zwölf Jahren Abitur machen, die Förderung klappt dort nicht ausreichend.

Stahmann: Aber Herr Rohmeyer: Aus den Daten die vorliegen, kann ich das nicht herauslesen, dass die Integrierten Stadtteilschulen so viel schlechter sind. Auch da hat es ein Aufholen gegeben – und es gehen sehr viel mehr Kinder auf integrierte Schulen. Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass das längere gemeinsame Lernen besser Ergebnisse bringt. Man kann doch nicht zu Gesamtschülern sagen: Das sind die Oberloser.

Rohmeyer: Das hat niemand behauptet!

Stahmann: Auch aus Kostengründen hat man sich in anderen Ländern für eine Schule für alle Kinder entschieden. Diese Schimpfe auf die Gesamtschulen ist ungerecht. In Bremen ist das Problem, dass sich die große Koalition um zwei Drittel der Schüler zu wenig gekümmert hat, nämlich diejenigen, die nicht auf das Gymnasium gehen.

Rohmeyer: Das ist falsch.

Stahmann: Nein, ich sage die CDU und der Bildungssenator haben eine Bildungspolitik gemacht, die sich um bildungsnahe Familien kümmert, aber Kinder aus benachteiligten Familien standen nicht im Focus der Bemühungen.

Rohmeyer: Nein, auf Inititative der CDU gab es in der letzten Plenarsitzung eine umfangreiche Debatte über Profilbildung in der Sekundarschule. Gerade an Gymnasien finden wir Schüler, die im Zweifel selber ihren Weg finden. Wir müssen uns stärker um die schwächeren Schüler kümmern und dafür sorgen, dass es auch hier besser Abschlüsse gibt, mit denen man dann auch einen Ausbildungsplatz bekommen kann. Der Staat hat es sich in der Vergangenheit geleistet, dass zehn Prozent der Schüler eines Jahrgangs ohne Abschluss die Schule verlassen konnten. Das müssen wir mit neuen Programmen ändern.

In Zeiten knapper Kassen ist das nicht einfach. Der Bildungssenator hat gesagt, dass das Geld kostet und er in seinem Bereich keinerlei Kürzungen hinnehmen will. Hat er da die Unterstützung seiner Fraktion?

Kauertz: Eindeutig. Das hat man in der Stadt gut wahrnehmen können. Und der neue Bürgermeister Jens Böhrnsen hat auch zum Ausdruck gebracht, dass Bildung ganz oben auf der Tagesordnung steht, und er ein Garant für insbesondere frühkindliche Bildung sein will.

Frau Stahmann, glauben Sie daran?

Stahmann: Die PISA-Mittel sind sinnvoll eingesetzt worden. Aber der Eckwert für den Bildungshaushalt kann nur erhöht werden, wenn der Senat und letztendlich die Bürgerschaft das mehrheitlich will. Wir haben seit Jahren Anträge gestellt und würden den Bildungssenator unterstützen, darauf hat er bis jetzt aber verzichtet. Dann muss eben mal eine Autobahn weniger gebaut werden. Auch in der Bildungsbehörde kann man Bürokratie abbauen, etwa in dem man gewisse Dinge zentral verwaltet.

Wo kann man in Zeiten knapper Kassen überhaupt noch Schwerpunkte setzen?

Rohmeyer: Wir können sparen, indem wir etwa Oberstufen stärken und zusammenlegen. Dadurch kann man Lehrer effizienter einsetzen. Darüber hinaus kann man beispielsweise den Bereich für frühkindliche Erziehung mit dem Bildungsressort zusammenlegen, damit hier keine Reibungsverluste auf dem Rücken von Kindern entstehen. Dazu haben wir an Einstiegsgehältern für Lehrer gespart. Die Koalition hat in der letzten Zeit bewiesen, dass Bildung für sie Priorität hat – und ich kann für die CDU sagen, dass das auch weiter so ist.

Fördermaßnahmen wie Lese- oder Deutschkurse sind teuer...

Stahmann: Und reichen nicht. Es fehlt darüber hinaus eine stärkere Verzahnung von Kindergarten und Schule. Hier müssen die Pädagogen fortgebildet werden und dafür muss man auch mehr Geld in die Hand nehmen, um umzusteuern. Es kann nicht sein, dass wir für weiterführende Schulen mehr Geld ausgeben als für die frühkindliche Bildung. Die PISA-Gewinner machen es genau umgekehrt und erzielen bessere Effekte.

Kauertz: Ich bin da mit Frau Stahmann einer Meinung. Aber wir haben nicht grundsätzlich zu wenig Geld ausgegeben, nur zu oft nicht kontrolliert, welche Effekte wir damit erzielt haben. Das war falsch.

Wo soll man umsteuern?

Kauertz: Wir sind alle dicht beieinander, wenn wir sagen, dass wir im Elementarbereich mehr fördern müssen. Da muss deutlich mehr Geld rein, da müssen wir eben in anderen Bereichen sparen. Das rechnet sich nachhaltig, weil wir dann später nicht mehr die Menschen weiterbilden müssen, was teuer ist.

Wie kann man die Chancen von Migrantenkindern verbessern, die nicht genügend deutsch sprechen?

Stahmann: 96 Prozent der Kinder in Bremen besuchen einen Kindergarten. Da muss es auch Beratungen und Erziehungsangebote an Eltern geben, wie etwa in England. Da ist das Potenzial nicht ausgeschöpft. Sprachförderung zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr zahlt sich aus. In Finnland bekommen die Kinder 20 Stunden Finnisch-Unterricht, dadurch können Kinder aus anderen Ländern perfekt finnisch, wenn sie in die Schule kommen. Da muss die Reise hingehen.

Rohmeyer: Das Problem ist, dass manche Kinder in Bremen weder ihre Muttersprache noch Deutsch richtig können. Da entstehen Parallelgesellschaften, da gibt es Ortsteile, in denen man kein Deutsch können muss. Da muss es ein freiwilliges Angebot aber auch einen Zwang zur Integration geben. Da müssen wir auch an Familien ran, die sich diesen Integrationsbemühungen bisher entzogen haben. Da ist der Ansatz des Senators richtig.

Reicht das Personal in Bremen, um die ganzen Fördermaßnahmen leisten zu können?

„Sozialdemokratische Bildungspolitik hat auch Erfolge, etwa sozialere Bildungssysteme.“„In Bremen entstehen Parallel-gesellschaften. Da muss es auch einen Zwang zur Integration geben.“

Rohmeyer: Da stellt sich nicht die Frage ob wir das können, wir müssen das. Die Arbeitsbelastungen der Lehrer sind hoch, aber die Pädagogen müssen auf der Höhe der Zeit sein. Die Lehrer können nicht wie früher das machen, was sie vor 20 oder 30 Jahren gelernt haben. Dazu müssen Lehrer sich wieder auf die Kernaufgaben konzentrieren dürfen. Bei uns macht der Lehrer auch Sozialarbeit und sammelt das Milchgeld ein. Wir müssen mit Kuratoren und Schulassistenten arbeiten, die sind auch günstiger als Lehrer. Dann kommen wir auch mit der Zahl der Lehrer zurecht.

Was ist mit den Ganztagsschulen? Hier gibt es diese Assistenten schon.

Stahmann: Ja, und wir wollen das. Aber auch diese Schulen müssen bezahlt werden.

Wie wird die Bremer Schullandschaft in zehn Jahren aussehen?

Rohmeyer: Wir werden eine Landschaft haben mit verschiedenen Schularten: Gymnasium, Integrierte Stadtteilschule und der Sekundarschule. Die sechsjährige Grundschule wird dann von der Bildfläche verschwunden sein. Dazu glaube ich, dass die heute noch vorhandenen Integrationsprobleme von Kindern beseitigt sein werden. Dann hoffe ich, dass Bremen in einer PISA-Studie weiter vorn steht. Wir haben ein Potenzial, dass nicht genutzt wurde, weil hier in der Vergangenheit alles egalisiert worden ist.

Stahmann: Allein aus finanziellen Gründen wird es in zehn Jahren eine Schule für alle Kinder geben, in der das individuelle Lernen im Vordergrund stehen wird. Und die Eigenverantwortung dieser Ganztagsschulen wird größer sein.

Kauertz: Ich kann keinen Hehl draus machen, ich bin da ziemlich grün angehaucht. Starke Schüler sollten in einer Schule die Schwächeren fördern, das stärkt die soziale Kompetenz. In der Ganztagsschule werden Kinder viel Zeit zubringen – und da muss man ein gutes soziales Umfeld schaffen.

Sind sie da nicht in der falschen Koalition?

Kauertz: Ich gebe nicht auf. Wir sind eine sehr lebendige Partei, wir überdenken vieles – auch im Moment.

Rohmeyer: Da die SPD ja auch immer gegen Vergleichsarbeiten war, wird sie auch in anderen Punkten weise werden.

Interview: Kay Müller