DIE FLASCHENSAMMLER
: Rein und raus

Die Frau blickt sich verstohlen um

Auf dem Hindenburgdamm befindet sich ein Supermarkt. Nicht auf dem Hindenburgdamm von Schleswig-Holstein nach Sylt – der ist nur für den Eisenbahnverkehr freigegeben. Nein, auf dem in Steglitz, zwischen Gélieustraße und Flotowstraße.

Die Kirchturmuhr im Gardeschützenweg schlägt gerade sechs Uhr. Ein aufgemotzter BMW brettert vorbei. Aus dem Inneren des Wagens schallt lauter HipHop. Einige Menschen gehen mit leeren Händen in den Supermarkt hinein, wieder andere kommen mit vollen Tüten heraus. Einer aber ist darunter, der mit vier vollen Tüten hineingeht – ein Flaschensammler, der sein mühsam zusammengetragenes Leergut abgibt.

Der Mann hat so viele Pfandflaschen gesammelt, dass er gar nicht alle auf einmal tragen kann. Drei Tüten bleiben am Lenkrad seines klapprigen Fahrrads zurück, als er im Supermarkt verschwindet. Steglitz scheint ein ertragreiches Pflaster für Flaschensammler zu sein.

Eine alte Frau taucht vor dem Supermarkt auf. Ihre Kleidung ist schmutzig und passt ihr nicht so recht – sie scheint sehr arm zu sein. In der einen Hand trägt sie mehrere abgegriffene, leere Plastiktüten, von denen schon die Farbe abblättert. Aber irgendetwas stimmt nicht mit ihr, denn sie blickt sich mehrere Male seltsam verstohlen um – so wie Kinder das manchmal tun, wenn sie etwas wahrnehmen, das nur sie wahrnehmen.

Dann geht sie schnurstracks und zielstrebig zum Fahrrad des Flaschensammlers, an dem die vollen Plastiktüten hängen, und blickt sich wieder um. Zack, greift sie in eine der Tüten und zieht zwei Pfandflaschen heraus, die sie in einer ihrer Tüten verschwinden lässt. Dann geht sie einfach weiter, ganz ruhig. So, als wäre nichts vorgefallen. In der Flaschensammlerszene in Steglitz beklaut man sich gegenseitig. Aber immerhin kennt man dabei noch das Maß.

TOBIAS PREMPER