: Wohlabgewogene Trivialität
Helmut Kohl erzeugt in seinen Erinnerungen einmal mehr nur leere und tote Prosa – als müsse er sich immer noch offiziell äußern, als nähmen wir Regierungserklärungen entgegen, die so wenig wie möglich Anlass zu Widerspruch liefern sollen. Ein Nachtrag zu Kohls Buchvorstellung in Berlin
VON MICHAEL RUTSCHKY
Es bleibt vollkommen rätselhaft, weshalb man dies superdicke Buch durchlesen soll. Zwischen den Prosaarbeiten, denen wir normalerweise unsere Aufmerksamkeit schenken, und denjenigen des ehemaligen Bundeskanzlers klafft ein Unterschied, der unüberbrückbar ist. „Für Hannelore“ lautet die Widmung, und bei seiner Pressekonferenz im Berliner Hilton ließ uns The Fat Man wissen, sie habe ihn in ihrem Abschiedsbrief dringend aufgefordert, die Erinnerungen zu schreiben. Warum? Damit, wie er genüsslich ausführte, den Geschichtsfälschern, die schon am Werk sind bei ihren lügenhaften Beschreibungen seiner Regierungszeit, rechtzeitig seine Gegendarstellung Widerstand leistet.
Das habe seine suizidale Frau als einen ihrer letzten Wünsche geäußert? Man glaubt ihm kein Wort. Einer der Söhne hat, wenn ich es mir richtig gemerkt habe, eine Biografie seiner Mutter geschrieben, die die ominöse Lichtallergie, die sie zum Freitod getrieben habe, mit der scharfen öffentlichen Kritik an The Fat Man und seiner Spendenaffäre verknüpfte. Wir waren es, die sie ums Leben gebracht haben. Wir sind die Geschichtsfälscher, denen er, auch im Namen seiner toten Frau, so mannhaft entgegentritt.
Nein, warum sollte man das lesen. Es findet sich natürlich kein einziger Satz über seine Frau, der nur den bescheidensten literarischen Ansprüchen an Authentizität genügen könnte. „Während in Deutschland alles auf die Wiedervereinigung zusteuerte, verdüsterte sich die Lebensstimmung meiner Frau von Tag zu Tag.“ So etwas hätte unsere Anteilnahme hervorgerufen.
Auf dem Bitburger Soldatenfriedhof legten wir Kränze zum Gedenken an die Toten des Zweiten Weltkriegs nieder. Ist es schon Geschichtsfälschung, wenn mir meine Erinnerung sagt, dass dieser Friedhofsbesuch mit dem verwirrten alten US-Präsidenten einen der großen Ungeschicksskandale aus der Regierungszeit von The Fat Man auslöste? Selbstverständlich, ließ er uns bei der Hilton- Pressekonferenz wissen, betreibe er keine objektive Geschichtsschreibung bei diesen Erinnerungen, er gebe seine subjektive Sicht der Dinge wieder.
Bloß verrät der oben zitierte Satz, überhaupt die Prosa des Buches sehr wenig, so gut wie gar keine Subjektivität; die Kontroverse wurde einfach herausgelassen zugunsten eines neutralisierenden Sprachgebrauchs. „40 Jahre nach Kriegsende, dachte ich, könnte ein amerikanischer Präsident ohne weiteres deutsche Kriegstote ehren, die der SS angehört hatten. Ich hatte mich getäuscht.“ So etwas hätte uns versöhnt, nicht wahr; womöglich hätten wir sogar dem Gedanken näher treten können, der den Kanzler leitete, dass vier Jahrzehnte nach Kriegsende die SS-Mitgliedschaft der Toten tatsächlich erloschen sei. Aber The Fat Man lässt uns keine Wahl; er wünscht die alten Streitigkeiten unbedingt fortzusetzen.
Was die Unterschiede zwischen Geschichtsschreibung, Geschichtsfälschung und subjektiver Darstellung verschwimmen macht. Im Grunde möchte The Fat Man – „sieht er nicht aus wie die Dresdner Frauenkirche?“, fragte neben mir eine Kollegin vollkommen fassungslos – im Grunde möchte er es so aussehen machen, dass jeder, der seine subjektive Sicht der Geschichte nicht teilt, schon der Geschichtsfälschung schuldig ist.
Was ihn, der im Hilton mehrfach auf sein Alter hinwies, das ihn nachsichtiger und milder gemacht habe, ohne Unterbrechung erfüllt, ist ein unbedingter Wille zu Politik. Im schlichtesten Sinne von Carl Schmitt: Freund und Feind unterscheiden und sofort mit den Feindseligkeiten beginnen. Das kriegten bei der Pressekonferenz gleich einige der Frager ab, obwohl sie sich beflissen genug geäußert hatten (er hatte, das Alter, die Frage bloß schlecht verstanden – umso schlimmer für den, der sie gestellt hatte).
Franz Josef Strauß war ein streitbarer Demokrat. Er besaß die Fähigkeit, in leidenschaftlicher Auseinandersetzung um den richtigen Weg der Politik zu ringen. Diese Schreibweise, die jede Subjektivität, jeden Gefühlsausdruck systematisch zu vermeiden trachtet, erzeugt eine Ödnis, die den Leser in Langeweile ertränkt – glücklicherweise steht ein ausführliches Register zur Verfügung, das den professionellen Lesern ein systematisches Spicken ermöglicht, sodass sie für Rezensionen und andere Schriften mit den einschlägigen Zitaten rasch versorgt sind. Waren die beiden Sätze über Strauß ein solches Zitat? Sie sind wiederum von solch einer unüberbietbaren Trivialität, die im Leser sofort Alternativsätze erzeugt. „Immer wieder erlebte ich Franz Josef Strauß, der als Politiker ein öffentliches Image von Entschlossenheit und Kampfeslust pflegte, in Zuständen von Trübsinn und Lähmung, ja Depression.“
Was soll letzten Endes diese Prosa von wohlabgewogener Trivialität? Dann eben doch den Eindruck von Unparteilichkeit, Objektivität, Gleichmut erwecken, der das fette Buch zu einem Quellenwerk machen könnte – dieser Gedanke erfreue ihn, gestand uns The Fat Man im Hilton: Wie, wenn wir alle tot sind, ein Geschichtsprofessor seinen Studenten eine Darstellung der Kohl-Ära aufgibt, und sie würden deswegen nach seinen Erinnerungen zu greifen gezwungen sein. So hätte er mit seiner öden Schreibe über alle Einwände gesiegt, denn wer sie macht, wäre ja, wie er, seit langem tot. Aber er hätte das letzte Wort. Ich war ins Hilton in der Absicht gegangen, ihm mit Wohlwollen zuzuhören; wahrscheinlich hat er seine Sache wirklich nicht schlecht gemacht, und es wäre an der Zeit, dass auch unsereins das anerkennt und die Feindseligkeiten einstellt.
Aber er lässt uns nicht. Die Freund-Feind-Unterscheidung fährt fort, ihn bis ins Einzelne anzutreiben – und sie erzeugt in seinen Erinnerungen eine leere und tote Prosa, als müsse er sich immer noch offiziell äußern, als nähmen wir Regierungserklärungen entgegen, die so wenig wie möglich Anlass zu begründetem Widerspruch liefern sollen. Er will gar nicht, dass wir die Feindseligkeiten einstellen und seine Leistungen anerkennen. Wir sollen endlich zugeben, dass wir die ganze Zeit, da wir ihn nicht gewählt haben, falsch lagen. Und das lassen wir schön bleiben.