: Das Problem sind häufig die Eltern
betr.: „Heute brauchen mehr Kinder eine Therapie“, „Frischluft statt Therapiezimmer“, taz vom 27. 10. 05
„Wir sind ein Land, das hoch qualifizierte Fachkräfte braucht (…) und daher ist es erforderlich, alles, was nur möglich ist, aus jedem einzelnen Kind herauszuholen.“ Wie bitte? Wir müssen viele unserer Kinder therapieren, damit sie fit für genau die Gesellschaft werden, die sie erst zu therapiebedürftigen Menschen macht? Na, da werde ich mir aber alle Mühe geben, in meinen Kindern „alles, was möglich ist“ drin zu lassen – und eben nicht herauszuholen – auf dass sie selbst dereinst entscheiden mögen, welchen Zielen sie ihre zweifelsohne hohen Qualifikationen widmen wollen.
CHRISTIAN SCHMITT-KILB, Rostock
Viele (auch Mittelstands-)Eltern können sich nicht erklären, warum ihre Kinder nicht „hören“ und so stressig sind. Oft werden Kinder materiell, mit Fernsehen und Gameboy abgespeist. Das ist bekannt. Aber wir haben in unserer Gesellschaft nicht das Bewusstsein dafür, dass hinter (fast) jedem Kinderstress die Eltern die Ursache darstellen und die Verhaltensauffälligkeiten der Kinder nur das Symptom sind. So umstritten die Supernannis und Supermamis sein mögen, das haben sie immer ganz klar zu erkennen gegeben. Das Problem sind häufig die Eltern, die nicht in der Lage sind, mit ihren Kindern angemessen umzugehen.
Eltern können häufig nicht die Bedürfnisse ihrer Kinder erkennen und auf sie eingehen, Geborgenheit, Nähe und Zuwendung geben. Und das ist nicht nur ein Problem in den sozial benachteiligten Schichten, das beobachte ich als Mutter auch auf den Hamburger Spielplätzen, wo neunzig Prozent der Eltern einen akademischen Abschluss haben. Statt die Kinder zu therapieren, brauchen wir mehr Beratungsangebote für die Eltern. Erziehungsberaterinnen, die wie Hebammen Hausbesuche abstatten, bevor es zum großen Knall kommt. Hausbesuche, die selbstverständlich sind, ohne etwas Defizitäres darzustellen. SAVA STOMPOROWSKI, Hamburg
In diesem leider recht einseitigen Artikel stehen nicht die Betroffenen im Mittelpunkt; für diese ist es eben nicht ein irgendwie soziales Problem, welches medikalisiert wird, sondern ein tagtägliches, sehr direktes, sehr persönliches. Soll doch Herr Schlack mit einem gerade mal Sechsjährigen (laut neuem Früheinschulungsgesetz ein „Muss-Kind“) zur Einschulungsuntersuchung gehen und sich dort überzeugen, wie groß seine ganz normale Variationsbreite der kindlichen Entwicklung ist und dass es sich erst mit acht Jahren in die Schule setzen kann; dann wär’s kein Problem! Oder wie stellt er sich die „gezielte Förderung“ im Kindergarten konkret vor, wenn durchschnittlich nur ein bis zwei Fachkräfte für zwanzig Kinder zuständig sind, deren Ausbildung allerdings nicht sensomotorische Entwicklungsverzögerungen, gezielte Fördermöglichkeiten und die dazu gehörende Elternanleitung beinhaltet?
In den Genuss der beschriebenen Modellprojekte kommen leider nur ein paar wenige, so dass es zynisch ist, die Augen vor dem derzeitigen „Ist-Zustand“ zu verschließen.
Kinder, „gesund und normal entwickelt“, in dieser alles kommerzialisierenden, durch elektronische Medien verblödenden und zubetonierten Umwelt verantwortungsvoll bis ins Jugendalter zu begleiten, ist eine der größten Herausforderungen der heutigen Elterngeneration. Diesen Eltern und vor allem den Kindern eine sehr wohl wirksame Hilfestellung wie die Ergotherapie abzusprechen, bestätigt nur das Bild unserer kinderfeindlichen Gesellschaft, welche sich zwar für zig Millionen Euro neu Kampfflieger leistet, die aber 780 Euro pro Kind und Jahr (laut GEK) als nicht tragbare Ausgabe für die Solidargemeinschaft erachtet.
Dass die Pharmaindustrie mit diesen Kindern durch die – nur in wenigen Fällen notwendige Verschreibung von Ritalin, Medikinet & Co. enorme Umsatzsteigerungen einfährt, ist der Autorin keine Silbe wert (das ist die eigentliche, zudem gefährliche Medikalisierung des „sozialen Problems“!). RENATE KRAMER, Ergotherapeutin und Mutter von 4 Kindern, Trochtelfingen