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Das richtige Leben schwappt über

KINO AUS JAPAN Wellen und Bäume, Blumen und Wolken: Naturmystik gehört zum Werk Naomi Kawases. So auch zu „Still the Water“, einem Film, der auf einer abgelegenen Insel spielt und von einem Rite de Passage erzählt

Als hätte sie Kiemen: Kyoko (Jun Yoshinaga) in ihrem Element Foto: Japanese Film Partners/ Comme des Cinémas

von Carolin Weidner

Natürlich hat die Japanerin Naomi Kawase für einen Film, der vom Meer erzählt, eine Insel erwählt. Sie heißt Amami-­Oshima und liegt im Ostchinesischen Meer. Besonders groß ist sie nicht. Die japanischen Hauptinseln jedenfalls heißen anders. Aber es gibt einen Flughafen. Von ihm aus gelangt man leicht auch bis nach Tokio. Diese Verbindungslinie existiert in „Still the Water“, sie wird allerdings nur einmal benutzt. Von Kaito. Das ist ein 16-jähriger Junge, den es mit seiner Mutter nach Amami-Oshima verschlagen hat. Glücklich ist er dort nicht. Das Meer macht ihm Angst. Er findet es „klebrig“. Außerdem schreckt ihn seine Lebendigkeit. „Ich bin auch lebendig“, sagt das Mädchen Kyoko, das seine Freundin geworden ist. Und eigentlich lässt sich an diesem Dreieck – Kaito, Kyoko und das große Meer – schon ein bisschen erkennen, woran sich die beiden Teenager zu stoßen haben. Oder: Welche Beziehung zum Leben Naomi Kawase hier aufeinanderstoßen lässt. Das Meer in „Still the Water“ ist wie eine Achse, die ihre Andersartigkeit betont. Selbstverständlich besteht gerade darin auch die Anziehungskraft zwischen Kaito und Kyoko.

Letztere lebt mit ihrer Familie seit jeher auf Amami-­Oshima. Die Mutter der Schülerin ist eine Schamanin, jedoch eine sterbenskranke. Schon zu Beginn des Films ist abzusehen, dass sie nicht mehr lange zu leben hat. Ihr Dahinscheiden ist ein stilles Zentrum von „Still the Water“. Genauso wie Kyokos Liebe zum Meer. Hier empfindet sie Momente der Einheit (die sie sich auch von Sex mit Kaito verspricht, doch der schreckt zurück). Das Wasser ist ihr so vertraut, dass sie nicht einmal aus ihren Kleidern schlüpft, wenn es an den täglichen Tauchgang geht. Den lässt sie sich auch nicht nehmen, als am Strand eine Leiche gefunden und fortan vom Schwimmen im Meer abgeraten wird.

Kyoko steigt trotzdem mit Rock und Bluse ins Wasser. Es ist dann, als sei sie selbst ein Fisch, als hätte sie Kiemen. Auf den ersten Blick spricht das für eine große Hingabe zum Leben, ein Vertrauen. Andererseits verrät Kyokos Unterwasser-Sehnsucht auch anderes. Denn obwohl sie ein Gefühl für ihre Umwelt und deren Pulsschlag besitzt, möchte ihr eine Wirklichkeit doch nicht in den Kopf: der nahende Tod ihrer Mutter.

Spiegelung im Brillenglas

Dabei gibt es in „Still the Water“ immer wieder Personen, besonders ältere, die Kyoko in der Unvermeidbarkeit des Sterbens unterrichten. Tatsächlich strotzen Naomi Kawases Filme von weisen Alten. Eigentlich könnte man sagen, dass ihr Filmschaffen sogar mit einer solchen begann. Ihrer Adoptivmutter Uno Kawase sind die ersten Videoarbeiten gewidmet. Da ist Naomi Kawase noch eine junge Frau, während Uno Kawase bereits auf die Achtzig zusteuert. Eher dokumentarische Arbeiten wie „Katatsumori“ (1994) zeugen von dem Verhältnis zwischen den beiden. Dabei beobachtet die Jüngere die Ältere. Naomi Kawase zeigt, wie Uno Kawase ihren kleinen Garten hegt – in sorgfältiger Selbstverständlichkeit werden Bohnen gepflückt und Tomaten gegossen. Oft nimmt sie sie in die Großaufnahme. Dann spiegelt sich Naomi Kawases Kopf samt Kamera in den riesigen Brillengläsern Unos. Im Bild findet eine Verschmelzung statt. Über mehrere Filme hat Naomi Kawase ihre Adoptivmutter zur Hauptfigur erkoren. Sie ist im Frühwerk der Regisseurin verewigt. Ihr Leben. Und auch ihr Ende.

Die Alten sind in „Still the Water“ jene Begleiter, die das Tor zum Erwachsensein passierbar machen

Den Sterbevorgang von Kyokos Mutter Isa zu zeigen, ist in diesem Sinne nichts Neues. In „Still the Water“ handelt es sich jedoch um keine Alte. Kyokos Mutter sollte eigentlich noch nicht sterben müssen. Vom Irdischen scheint sie sich dennoch verhältnismäßig leicht zu lösen, was vielleicht mit ihrem Schamanen-Dasein zusammenfällt. Für die Tochter Kyoko macht es das nicht weniger schmerzhaft. In einer Szene besucht sie den Schrein ihrer Mutter und trifft dabei auf die Hauptschamanin. Sie fragt sie: „Warum müssen Menschen geboren werden und sterben?“ Diese antwortet: „Ihre Gedanken bleiben in der Welt.“ Doch Kyoko meint: „Das ist nicht genug.“

Sowieso dringen Botschaften der Alten in einem fort an die Jungen. Da ist zum Beispiel ein Viehhirte, der im Laufe von „Still the Water“ mehreren Ziegen den Hals aufschlitzt. Zunächst dient die Aufnahme des geöffneten Tieres dem archaischen Filmauftakt mitsamt wogendem Meer, Ebbe und Schwarzbild. Später dann stehen Kaito und Kyoko gemeinsam um eine andere kopfüber gehängte Ziege, deren Blut in einen Steintopf tropft. Kawase bleibt dem Figurenkonzept treu: Während sich Kaito angewidert abwendet, wirkt Kyoko wie hypnotisiert. Nach der Tötung sitzt der Alte mit Kyoko am Strand und richtet sein Wort an die jüngere Generation: „Was ihr machen wollt, macht es. Was ihr sagen wollt, sagt es. Wenn ihr weinen wollt, weint.“ Die Alten sind in „Still the Water“ jene Begleiter, die das Tor zum Erwachsensein passierbar machen. Sie versprechen dort Klarheit, wo bezüglich der nächstälteren Generation – den eigenen Eltern – Konfusion vorherrscht.

Das ist bei Kaito noch viel stärker der Fall als bei Kyoko. Der ist ganzheitlich irritiert. Von der alleinerziehenden Mutter, die kaum zu Hause ist, Gerichte vorkocht, Zettelchen schreibt und ab und an einen Liebhaber hat. Davon, dass jene zumeist großflächig tätowierte Rücken haben – wie der eigene Vater und die am Strand gefundene Leiche.

Das Meer macht ruhig

Manche belächeln Kawases Kino als Shinto-Kitsch. Oder halten es schlicht für esoterisch

Ein Kurztrip nach Tokio – dort hat sich der Vater sein Tattoo-Studio eingerichtet – kann auch nicht weiterhelfen. Vielmehr ist der Vater mit seinem modernen, von Kunstlicht geprägten Leben wahrscheinlich am weitesten entfernt von Kawases Ideal. „Ich bin immer beschäftigt. Die Zeit vergeht sehr schnell. Es laugt mich aus“, erklärt er seinem Sohn. Es wäre falsch zu behaupten, Naomi Kawase hätte keine Sympathie für ihn übrig. Sie unterbreitet allerdings ganz konkrete Alternativen. Das stürmende Meer, die rauschenden Baumkronen, Amami-Oshima. Der Natur widmet sich die 46-Jährige beinahe mehr als ihren Protagonisten. Sie ist der menschlichen Zivilisation immer überlegen. Und das ursprüngliche Leben ist ein erstrebenswerteres als eines unter Zeitnot. Frisch zubereitetes Essen auch. Kawase stilisiert das oft, und oft gelingt es ihr auch. Beim Gucken ihrer Filme hat man den Eindruck, ein bisschen dieses „richtigen“ Lebens schwappe auch auf einen selbst über. Dann merkt man, wie man beim Anblick des Meeres ruhiger wird, erfreut sich am Anblick der Meeresfrüchte in der Pfanne, im Hintergrund ein Naturpanorama.

Naomi Kawase ist dieses Prinzip in der Vergangenheit unterschiedlich gut geglückt. Ihr Film „Nanyo“ (2008) etwa, der von Saiko erzählt, einer unwahrscheinlich schönen Frau, die durch Thailand treibt und tief im Wald verborgen nicht nur auf traditionelle Massagekunst, sondern auch den attraktiven Franzosen Grégoire trifft, musste sich einige Häme gefallen lassen. Auch Exotismus-Vorwürfe. Andere belächeln Kawases Kino als Shinto-Kitsch. Oder halten es schlicht für esoterisch. Sicherlich ist es immer wieder recht holzschnittartig. „Still the Water“ ist ein gutes Beispiel dafür. Kawase lässt ihre Teenager mehr wie gegenläufige Ideen antreten. Natürlich vor einer Kulisse, die beide noch bei weitem überragt – das Meer. „Und immer noch das Wasser“, so lautet der Filmtitel ja auch in seiner deutschen Übersetzung.

Ist man Kawase gegenüber auf­geschlossen bis wohlgesonnen, kann man ihr zugutehalten, dass sie mit ihrer Beobachtung nicht abwegig unterwegs ist. Und weil sie den Bäumen, Blumen, Steinen und Wolken mit Ovationen begegnet, haben ihre Filme etwas scheinbar Einrastendes. Man ist wieder auf Linie mit dem Sein. Aber nur seltsam kurz.

„Still the Water“. Regie: Naomi Kawase. Mit Nijiro Murakami, Jun Yoshinaga u. a. Japan 2014, 120 Min.

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