Die Hauptstadt der Masochisten
: Heimweh, dachte ich

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Bridge & Tunnel

von Ophelia Abeler

Ankunft in Berlin Hauptbahnhof. Mein vierjähriger Sohn muss aufs Klo. Im Zug war es zu eklig. Der Schaffner erklärte, warum: „Wegen Verspätung konnte unser Zug leider nicht geputzt werden, wir versuchen, dies während der Fahrt halbwegs nachzuholen.”

Jetzt trennen uns kaputte Rolltreppen und unendlich langsame Fahrstühle von den Toiletten, die sowieso nicht da sind, wo die Pfeile hinzeigen. Und ich bin sofort wieder fassungslos über die Sinnlosigkeit des Berliner Hauptbahnhofs. Endlich gefunden, wartet eine Schlange vor der Damentoilette, während bei den Männern nichts los ist. Mein Sohn rennt rüber, ich ihm hinterher. Doch eine Frau im Kittel wirft sich dazwischen.

„Damentoilette, Sie!“

Sie schreit. „Damentoilette, Sie!“ Ich sage zu ihr, dass ich nur in Sichtweite auf meinen Sohn warten möchte, der ja wohl die Herrentoilette benutzen dürfe. Er hüpft jetzt von einem Bein aufs andere. Die Toilettenfrau tritt noch immer nicht zur Seite. Ich werde wütend.

Ich sage zu meinem Sohn: „Du kannst ruhig auf den Boden pinkeln, aber bitte nicht in deine Hose.“ Und, extra böse über die Toilettenfrau hinweg: „Die Frau hier wischt das gerne weg.“ Jetzt lässt sie ihn endlich in die Kabine. Mich brüllt sie an: „Geh doch, wo du wohnst!“

Ich wohne in New York. Auf den Tag genau vor drei Jahren bin ich aus Berlin weggegangen. Bis eben hatte ich Heimweh oder dachte das zumindest. Wo geht das Heimweh hin, wenn man heimgekehrt ist?

Heinrich Böll schrieb in „Stadt der alten Gesichter“ über seine Heimatstadt – und es spielt keine Rolle, dass diese in seinem Fall Köln heißt: „Aber Köln, das sind die Namenlosen, die ich oft jahrzehntelang nicht sehe und doch immer wiedererkenne; von ihren Gesichtern lese ich den Ablauf der Zeit deutlicher ab als vom Kalender und von den Gesichtern derer, die mit mir älter werden.“ Zu Hause, sagte Böll, sei er hingegen dort, wo seine Familie sei, er die Bekannten kenne, während er in seiner Heimat die Unbekannten kenne. Ich kenne diese Toi­lettenfrau ganz genau.

Soziologen sind der Ansicht, vor allem das Zwischenmenschliche mache Heimat aus. Demnach müssten sich in Berlin vor allem Masochisten wohlfühlen; Menschen, die auf Erniedrigung stehen, auf Angeschissenwerden und Schuldzuweisungen und auf miesen Service sowieso.

Das ist genau das, was Besucher zu meinem Ärger immer über Berlin gesagt haben; nur noch schlimmer fand ich es, wenn kürzlich Weggezogene dann auch beim ersten Besuch davon anfingen. Kann man einen Ort plötzlich nicht mehr verstehen?

Spaß am Fremden

Durch New York rennen Menschen, die die Schuhe ihres Gegenübers in der U-Bahn lieben, seine Frisur vergöttern und ständig fragen, ob mit dem Essen alles in Ordnung gewesen sei, beziehungsweise wenn sie diese Frage gestellt bekommen, ausrufen, Ehrfurcht gebietend sei es gewesen, absolut köstlich, und einen großartigen Tag solle man noch haben! Verstehe ich das wirklich, oder mache ich nur aus Faszination und Spaß am Fremden mit?

Der türkische Taxifahrer schnallt mein Kind an, tät­schelt ihm über den Kopf, ich strecke meine Beine hinten im Mercedes aus, der ein bisschen verraucht riecht. Wir plaudern, während wir an der Spree vorbeigleiten, Ellbogen raus, der Fahrtwind zerzaust unsere Haare, nix Air Conditioning – ich könnte weinen vor Glück.

Und so geht es vier Tage lang. Hingeknallte Kaffeetassen, aber das beste Gespräch über Klaviermusik seit Langem. Wunderbare Gastfreundschaft, spontane Abendessen mitten in der Woche, von denen niemand vor 24 Uhr mit der Begründung aufbricht, früh arbeiten zu müssen. Genüssliches und im Übrigen berechtigtes Lästern über einen deutschen Schriftsteller, den in den USA natürlich niemand kennt. Der lausigste Smoothie aller Zeiten, und der Frisör beim Cut&Go motzt, als nach einer Ewigkeit meine Wartenummer aufgerufen wird: „Ick mach nur Männa.“

Als ich wieder am Hauptbahnhof stehe, der Zug hat eine halbe Stunde Verspätung, beobachte ich einen Unbekannten, der einem alten Familienfreund erstaunlich ähnlich sieht. Unsere Blicke treffen sich. Ich leide an Nostalgie; ich sage ihm, warum ich geguckt habe – eine amerikanische Eigenschaft, dieses Kommentieren des Moments, der damit aber in der Regel vorbei ist.

Nicht hier. Jetzt weiß ich etwas von Kurt Kreikenbom. Zum Beispiel, dass er Archivar ist, genau wie mein Familienfreund. Und dass er manchmal Heimweh hat nach New York, weil seine Musik dort besser verstanden wird als hier.

Ophelia Abeler ist Kulturkorrespondentin der taz in New York