: Die Personen sind die Hauptsache
Große Reformen hin, die gern angeführte Priorität von Sachfragen her – in der Politik gibt es eine Äquivalenz zwischen Programmen und Personen. Zumal jeder Politiker genau weiß, dass Kleinteiligkeit und Kurzfristigkeit unser modernes Schicksal sind. Über die Kontingenzkultur des Politischen
VON NORBERT BOLZ
Eine Partei, die Regierungsverantwortung übernimmt, braucht eigentlich zwei Führer: einen für die graue Praxis des Regierungshandelns und einen für die Gefühle. Weil die CDU den Gefühlen der Wähler nichts und niemanden zu bieten hatte, hat sie die Wahl verloren. Und die SPD stürzt nun, nachdem sie lange von der Faszinationskraft ihrer Führer zehren konnte, kopflos in dasselbe Vakuum. Für den unbefangenen Beobachter hat das auch Vorteile. Sobald das Polit-Marketing seine Celebrities verliert, werden die politischen Parteien wieder sichtbar.
Wenn die überlebensgroßen Akteure die Bühne verlassen, bekommt der Zuschauer bisweilen einen Durchblick auf die Leute im Hintergrund, die Wasserträger, Nebendarsteller und Strippenzieher, die sich zeitgeistgemäß auch „Netzwerker“ nennen. Nachdem die Mediensuperstars Schröder und Fischer abgetreten sind, die Genossen, als wären sie Freuds Urhorde, ihren Vater Müntefering symbolisch ermordet haben und Stoiber sich auf seine unnachahmliche Art selbst unmöglich gemacht hat, ist plötzlich auf der politischen Bühne und in den Talkshows viel Platz für die Selbstdarstellung derer, die bisher im Schatten der Lichtgestalten standen.
Das gewöhnungsbedürftig Neue dabei ist, dass Frauen mit dem Willen zur Macht in den Vordergrund drängen. Auch sie möchten endlich das Prestigegefühl genießen, das aus dem Machtbesitz strömt. Und an der durchaus zeittypischen Andrea Nahles kann man sehen, dass diese neuen machtbewussten Frauen auch bereit sind, die Grundbedingung politischen Überlebens zu erfüllen, nämlich große physische Robustheit zu beweisen. Es genügt eben nicht, ein „Frauendenken“ (Gustav Landauer) in die Politik einbringen zu wollen; man muss auch einen unübersehbaren Körper auf die politische Bühne stellen und dessen Repräsentationskraft durch ein Amt sichern.
In Max Webers Rede über Politik als Beruf findet sich der immer noch bedenkenswerte Satz: „Alle Parteikämpfe sind nicht nur Kämpfe um sachliche Ziele, sondern vor allem auch: um Ämterpatronage.“ Nicht das Programm, sondern die Jagd nach den Stellen ist das stabilisierende Moment im Leben einer Partei. Hier muss man sich rechtzeitig in Position bringen, um dann entweder als braver Parteisoldat mit einem Posten belohnt oder als medienbekannter Störenfried mit einem Posten stillgestellt zu werden. Diese infantile Technik der Selbstbehauptung durch Dissens wird nämlich von den Medien belohnt. Sie lieben den Typus des „unbequemen“ Querdenkers. Das ist zumeist ein Mitglied der Partei A, das in der Medienöffentlichkeit Positionen der Gegenpartei B vertritt. Heiner Geißler hatte das früher zur Perfektion entwickelt; heute versucht sich Seehofer in dieser Rolle. Das ist die einzige politische Karrierealternative zum harten Marsch durch die Partei.
Einen politischen Menschen erkennt man daran, dass er hinter jedem „sachlichen“ Vorschlag Karriereambitionen wittert und natürlich auch umgekehrt die eigene Karriere durch Reformideen zu steuern versucht. Politisch betrachtet steckt also hinter jedem Verbesserungsvorschlag ein Plan zur Verbesserung der eigenen Position. Für den Zuschauer der Mediendemokratie soll das Ganze natürlich genau umgekehrt erscheinen, nämlich dass der Politiker die Macht nur um der Sache willen erstrebt. Sein „impression management“ ist dann perfekt, wenn die triviale Tatsache, dass er von der Politik lebt, so erscheint, als ob er für die Politik lebe. Auf der obersten Führungsebene ist das bisher nur wenigen ohne Glaubwürdigkeitslücke geglückt – Helmut Schmidt etwa.
Leidenschaftliche Sachlichkeit, wie sie Max Weber vom Politiker forderte, findet sich im parlamentarischen Alltag eher selten. Hier geht man arbeitsteilig vor: Die einen erregen sich öffentlichkeitswirksam, die anderen tun die Arbeit. Das erklärt auch, warum zwei Parteien, die sich gerade noch gegenseitig die Schuld am Untergang Deutschlands zuschrieben, nun eine große Koalition bilden können. Ein naiver Wähler, der das Wahlkampfgetöse wirklich ernst genommen hat, kann da nur noch ungläubig den Kopf schütteln. Er muss jetzt lernen, dass es in der Politik nicht primär um Sachen, sondern um Personen geht. Jede Partei, jede Regierung ist ein aus persönlichen Beziehungen aufgebauter Herrschaftsapparat.
Intellektuelle – und zunehmend auch Politiker der zweiten Reihe, die sich als kluge Köpfe präsentieren möchten – vertreten gern die Auffassung, die Politik müsse erst die Sachfragen klären, bevor über Personen diskutiert wird. Einfachere Gemüter dagegen wollen lediglich wissen, wer was wird. Vermutlich haben diese einfacheren Gemüter aber ein besseres Gespür für das Politische als jene klugen Köpfe. In der Politik gibt es nämlich eine Äquivalenz zwischen Programmen und Personen. Deshalb haben die Talkshow-Diven Recht, wenn sie sich durch Sachfragen nicht beirren lassen und hartnäckig nach Personalentscheidungen fragen. Gerade wenn es kein Programm für wirtschaftlichen Aufschwung gibt, ist es entscheidend wichtig, wer Wirtschaftsminister wird. Gerade wenn es keine konzeptuelle Brücke von der SPD der Herzen zur Agenda 2010 gibt, ist es entscheidend wichtig, wer Parteivorsitzender wird.
Überall auf der Welt ist es bei regierenden Politikern zur schlechten Gewohnheit geworden, zu behaupten, dass es zu der von ihnen vertretenen Politik keine Alternative gäbe. Das ist natürlich, zumindest in modernen Demokratien, der bare Unsinn. Denn die unterschiedlichen Parteien stehen ja gerade für die Möglichkeiten alternativer Politik. Alles, was man macht, wäre auch anders möglich, wenn auch nicht beliebig anders – und durchaus nicht immer besser. Und wenn dann einmal die bisherige Opposition an die Regierung kommt, merken die neuen Mächtigen, dass sich, obwohl doch alles auch anders möglich wäre, konkret fast nicht ändern lässt. Soziologen benennen diesen fundamentalen Sachverhalt mit einem kaum übersetzbaren Begriff: Kontingenz. Darauf müssten wir uns alle einstellen.
Der Politiker hat in dieser Frage den Bewusstseinsvorsprung des Insiders. Während der Intellektuelle nämlich von der Politik große Reformen erwartet, weiß der Politiker, dass Kleinteiligkeit und Kurzfristigkeit unser modernes Schicksal sind. Der Charme der Bierdeckel-Lösungen wird immer Rhetorik bleiben. Die großen Probleme werden nie gelöst, sondern immer nur verschoben – zumeist bis zur nächsten Legislaturperiode. Nur in Sonntagsreden denkt die Politik über den Zeithorizont von vier Jahren hinaus. Zukunft wird nicht gestaltet, sondern diskontiert.
Diese Kurzfristigkeit der Politik, die vielen als Kurzatmigkeit erscheint, ist aber unvermeidbar. Sie reduziert die unbearbeitbar große Komplexität unserer Probleme (demografische Implosion, Rentensystem, Pisa – you name it!) und macht Entscheidungen überhaupt erst möglich. Deshalb gehört zu einer modernen Gesellschaft eine kontingente, opportunistische Politik, die niemals den „großen Wurf“ schafft, sondern alles vorläufig und bis auf weiteres regelt. Viele fühlen deshalb den Boden unter den eigenen Füßen wanken. Doch das ist kein Krisenzeichen; es bedeutet lediglich, dass sich die Politik, wie andere Gesellschaftsbereiche auch, nur noch dynamisch stabilisieren lässt.
So bleibt uns, den Wählern, Zuschauern und von politischen Entscheidungen Betroffenen, nichts anderes übrig, als zu versuchen, die Zukunft unseres Landes an den Politikern abzulesen. Wer wird was? Gabriel als Umweltminister, Seehofer als Landwirtschaftsminister – das spricht für den Humor der großen Koalition. Wer in diesen Bereichen Interessen hat, muss sich nicht um die Kompetenz der Minister sorgen. Denn das gehört ja gerade zur Kontingenzkultur des Politischen, dass man fast jeden auf fast jeden Posten setzen kann und am Ende etwas ganz Passables herauskommt. Katholiken erklären sich das so, dass Gott dem, dem er ein Amt gibt, auch den Verstand dazu gibt. Wer das nicht glauben kann, darf an „learning by doing“ glauben.