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Die Kältedes Erzählens

LITERATUR Den Schrecken in Schach halten: der utopische Roman „Score“ von Martin Burckhardt

Die Welt, wie wir sie kannten, gibt es nicht mehr. Die nächste große Finanzkrise und anschließende Aufstände haben sie in Trümmer gelegt. Rechtzeitig hat sich der größte Player der nächsten Zukunft, die Spielefirma Nollet, aus Silicon Valley nach Berlin gerettet. Dort residiert Nollet auf dem Tempelhofer Feld. Das Firmengebäude gleicht einer riesigen fliegenden Untertasse.

Martin Burckhardt hat mit „Score“ seinen ersten Roman vorgelegt. Dabei ist er kein unbekannter Autor. Er hat viele Hörspiele und Sachbücher geschrieben, verfügt über ein feines Gespür für Stimmführung, Komplexität, Rollenprosa, diskrete Dramaturgie. Tatsächlich schwebte ihm anfangs ein weiteres Sachbuch vor. Sein Verleger brachte ihn dazu, stattdessen diesen Roman zu schreiben.

Im Jahr 2039 ist endlich alles Spiel. Arbeit, Mühsal, Katastrophen – für jede Aufgabe gibt es Leute, die sich nach ihr sehnen und sie lösen können. Es gibt keine Knappheiten mehr. Die Ökonomie des Kapitalismus hat die nächste Stufe erreicht. Es ist kein Schlaraffenland, eher eine Welt des Altruismus. Achte auf das große Ganze und allen geht es gut, auch dir.

Nollets Social Planning Unit überlässt nichts dem Zufall. Tauchen Probleme auf, übernimmt die Desambiguierungsabteilung. Der Nollet-Algorithmus hat die zertrümmerten Nationalstaaten und Weltwährungen ersetzt. Der oberste Glaubensgrundsatz der ECO-Welt lautet: Identität ist Verschlüsselung. Außerhalb tobt in der Zone der ewige Bürgerkrieg, haben Warlords das Sagen. ECO steht übrigens für Enriched Cybernetic Organism.

Die nächste Gesellschaft

Damian Christie, ein Kopf der Social Planning Unit im Nollet-Imperium, stößt auf Ungereimtheiten. Ein Kandidat für seine Abteilung begeht vor seinen Augen Selbstmord. Damian findet heraus, dass der Algorithmus gehackt worden ist. Er stößt auf das Komplott, weil er die Amnesia-Tablette nicht genommen hat, die seine Erinnerung an den Vorfall auslöschen sollte. Das Vergessenmachen funktioniert nicht mit ihm.

Ähnlich wie Dirk Baecker über die nächste Gesellschaft nachdenkt, untersucht auch Martin Burckhardt den mutmaßlichen Zentralkonflikt der nächsten Gesellschaft. Was wird aus dem Eigensinn, was aus dem Unbewussten? Hierfür hat er eine Tonlage gefunden, als stehe seine Prosa unter Valium, ein meisterhafter atmosphärischer Trick. Denn so beglaubigt der Roman die kulturelle DNA der nächsten Gesellschaft, die er beschreibt: ihre eigentümlich gleichmütige Kälte.

Es wäre ein Missverständnis, deshalb anzunehmen, „Score“ sei nur so etwas wie ein Theorieroman. Dazu ist der Roman zu dicht, entwickelt so viele Erzählfäden, als habe er Stoff für mehrere Fortsetzungen. Vor allem aber ist er dafür zu boshaft. Denn die ECO-Welt wirkt so, als seien in ihr die politischen Utopien der Grünen, der Linken und der Piraten verwirklicht. Indem Burckhardt deren Ideen zum Erfolg in seinem Roman verhilft, illustriert er, was ihnen fehlt: die Idee für die Ambiguität ihrer Politik, das fehlende Gespür für Ambivalenz. Der Erfinder der ECO-Welt weiß mehr über die politischen Träumer unserer Zeit als sie selbst, treibt sie erzählerisch über sich hinaus und macht sie kenntlich. Deshalb ist der Roman utopisch und dystopisch zugleich.

Es liegt nahe, „Score“ mit Dave Eggers’Roman „The Circle“ zu vergleichen. Dave Eggers’Roman wirkt schematisch, „Score“ dagegen adaptiert die Textsorten des mythischen Erzählens, was seinen Protagonisten eine andere Tiefe verleiht. Man möchte mehr über sie wissen. Denn „Score“ hat mit der Kälte des Erzählens gerade erst die erforderliche Betriebstemperatur erreicht.

Das liegt wohl auch daran, dass Martin Burckhardt in den Plot seines Romans die Schreckensthemen unserer Zeit und die Gegenstände unentschiedenen politischen Streits kunstvoll beiläufig eingewebt hat. Er steht damit in einer Tradition des Erzählens, die die europäische Literaturgeschichte seit der großen Pest kennt als ein Erzählen, das den Schrecken in Schach hält und ihn auf Abstand rückt.

In dieser Tradition steht Martin Burckhardt als „elektrischer Autor“ (so beschreibt er sich selbst) wie ein Zitteraal, der Stromstöße austeilt. Anders als der Aal aber nimmt er sie auch selbst auf und überführt sie in eine Kettenreaktion. Diese Operation können wir als gelungenen Versuch verstehen, im Format eines Romans mit den Themen unserer Zeit in ein Spiel zu gelangen. So kommen ihre Ambivalenzen anders in den Blick. Der Leser kann sie anprobieren wie einen maßgeschneiderten Anzug, wenn er beim Lesen entdeckt, wie er durch den Anzug wie in eine neue Haut geschlüpft ist und mitzuspielen beginnt.

Hans Hütt

Martin Burckhardt: „Score“. Knaus Verlag, München 2015, 352 Seiten 14,99 Euro

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