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Archiv-Artikel

„Viele springen ins kalte Wasser“

SPREE-ATHEN Mosjkan Ehrari und Vassili Vougiatzis haben einen Film über die Verzweiflung junger Griechen gedreht. Heute unterhalten sie sich auf einem Podium über die zunehmende Zahl griechischer Neuberliner

Mosjkan Ehrari

■ geboren 1969 in Berlin, lebte lange Jahre im Iran und in Griechenland – dem Italien der Iraner, wie sie meint. Sie ist Dokumentarfilmerin und Journalistin.

INTERVIEW SUSANNE MESSMER

taz: Frau Ehrari, warum haben Sie einen Film über junge Griechen in Griechenland gedreht?

Mosjkan Ehrari: Wir waren mit der Berichterstattung in den deutschen Medien total unglücklich. Das grenzte schon an Populismus, wie da auf einmal ein sehr einseitiges, ja stigmatisierendes Bild von Griechenland gezeichnet wurde.

Was ist denn Ihr Bild?

Ehrari: Die Leute arbeiten sich den Buckel krumm. Sie haben teilweise zwei oder drei Jobs. Diese Leute kommen in den Medien derzeit kaum vor.

Herr Vougiatzis, fühlten Sie sich durch die Medien an Ihre Kindheit im Stuttgart der 80er Jahre erinnert?

Vassili Vougiatzis: Wir Griechen wurden damals zum Glück nie sehr diskriminiert. Insofern finde ich es umso trauriger, wie sehr diese Sündenbocknummer funktioniert.

Ehrari: Wir sind die erste Generation, die von der Vision Europa profitiert. Und auf einmal reden alle nur noch über Geld, wenn sie über Europa reden.

Es bilden sich griechische Communities, die hier für etwas Nestwärme sorgen

Vougiatzis: Noch dazu geht es nicht mehr um Trennlinien wie die zwischen Arm und Reich, sondern um nationale Trennlinien.

Sie zeigen in Ihrem Film viele junge Leute in schlecht bezahlten Brotjobs, für die sie völlig überqualifiziert sind.

Ehrari: Die jungen Leute sind super ausgebildet, aber es gibt für sie keine Jobs. Die Jugendarbeitslosenquote liegt bei 50 Prozent. Sie haben keine Perspektive, sie bekommen null Unterstützung – und sie haben keine Schuld an dieser Misere. Es geht ihnen nicht darum, dass sie sehr wenig Geld verdienen – manchmal nur 600 Euro im Monat, von denen man auch in Griechenland nicht leben kann. Sie leiden auch unter der gesellschaftlichen Krise. Sie sind in die Probleme ihres Landes hineingeboren worden, sie fühlen sich total machtlos. Deshalb stürzen viele in tiefe Depressionen, oder sie radikalisieren sich. Die Neofaschisten haben immer mehr Zulauf und werden immer brutaler. Diese Gefahren sieht hier keiner.

Vougiatzis: Viele verlassen das Land. Sie trifft dasselbe Schicksal wie meine Eltern, wenn sie auch besser ausgebildet sind. In Griechenland droht ein Exodus, ein Braindrain.

Ehrari: Griechenland braucht Visionen. Die kann das Land kaum entwickeln, wenn die Eliten das Land verlassen.

Warum kommen so viele junge Leute ausgerechnet nach Berlin?

Vassili Vougiatzis

■ geboren 1974 in Stuttgart als Sohn griechischer Gastarbeiter, die heute wieder in Griechenland leben. Er lebt und arbeitet seit vielen Jahren als Journalist in Berlin.

Ehrari: Berlin ist nicht so teuer, das ist das Wichtigste. Die griechische Gemeinde ist nicht so groß wie in Stuttgart, aber sehr aktiv. Es gibt Gemeindezentren und Tavernen, tolle deutsch-griechische Schulen – und eine Facebookseite, über die sich die Leute informieren und gegenseitig helfen können.

Wie leben denn diese Neuberliner?

Ehrari: Es gibt viele, die sich schon von Griechenland aus einen Job in Deutschland suchen. Es gibt aber auch sehr viele, die einfach ihr Glück versuchen und ins kalte Wasser springen. Da ist der Anfang sehr schwierig. Ich kenne viele, die zu dritt oder zu viert in Zweizimmerwohnungen leben. Viele schieben für 5 Euro in der Stunde Nachtschichten auf dem Gemüsemarkt. Hinzu kommt die latente Angst, dass die Krise auch bald Deutschland erreichen könnte.

Also geht es den griechischen Neuberlinern eher schlecht?

Ehrari: Es geht ihnen nicht gut. Die Stimmung ist von Aufbruch weit entfernt. Die meisten wollten ja gar nicht weg, denn die Bindung an Land, Leute und vor allem an die Familie ist oft stärker als hier. Die Menschen kommen nicht mit der Perspektive, ein, zwei Jahre zu bleiben. Sie fühlen sich ja gezwungen, hier ein neues Leben anzufangen.

Griechen

■ In Berlin: Laut Amt für Statistik Berlin-Brandenburg kamen mit 1.504 Personen rund doppelt so viele Menschen aus Griechenland nach Berlin wie in den Vorjahren: 2010 waren es 823; 2009 nur 656.

■ Im Film: 2011 drehten Mosjkan Ehrari und Vassili Vougiatzis den Film „Message from Greece“, den sie 2012 auf dem Dokumentarfilmfestival in Thessaloniki zeigten.

■ Im Gespräch: Ehrari und Vougiatzis sprechen heute mit der Sozialarbeiterin Pigi Mourmouri und der Anwältin Anatoli Ortulidu über griechische Neuberliner. 19 Uhr, August-Bebel-Institut, Müllerstraße 169, Wedding.

Vougiatzis: Griechenland ist ein mediterranes Land, man darf die Sache mit dem Wetter nicht unterschätzen. Spätestens nach einem Jahr fangen die Leute wirklich an zu leiden. Und dann bilden sich die griechischen Communities, was am Anfang eine gute Sache für die einzelnen Personen ist, denn so haben sie hier wenigstens etwas Nestwärme. Langfristig sind diese Communities trotzdem ein Problem.

Haben Sie noch Kontakt zu den Protagonisten Ihres Films?

Ehrari: Wir wollen auf jeden Fall einen zweiten Teil machen.

Vougiatzis: Der Film ist 2011 gedreht worden, ich denke, spätestens im Sommer sollten wir wieder hinfahren.