: Venedig – Stadt der Illusionen
TOURISMUS UND MIGRATION Die opulente Dokumentation „Migropolis“ zeigt, wie die Prozesse der Globalisierung Arbeit und Leben in Venedig bestimmen
VON THOMAS HUMMITZSCH
Zwei leere Getränkekisten stehen kopfüber auf einem menschenleeren Platz im Zentrum Venedigs. Auf der einen liegt ein aufgeschlagener Ordner mit Mustern und Vorlagen für Henna-Tattoos. Die andere steht etwa einen Meter dahinter, verformt vom Gewicht des Bangladeschers Zillur X., der mehrere Stunden täglich auf der Kiste sitzt und auf Kundschaft wartet. Vor wenigen Minuten hat der irreguläre Einwanderer seinen Arbeitsplatz verlassen – wie übrigens auch die unzähligen Straßenhändler aus dem Senegal oder aus China, die sich sonst neben ihm auf dem Platz tummeln –, weil sich eine Polizeipatrouille nähert. Die Polizisten werden an den Kisten vorbeigehen und Zillur wenige Minuten später wieder an seinem Stammplatz auf neugierige Touristen warten.
Venedig braucht Menschen wie ihn, weil sie die gigantische Touristikmaschine der Stadt am Laufen halten. Von den Offiziellen und Sicherheitskräften werden die irregulären Einwanderer geflissentlich ignoriert. Dies führt zu der absurden Situation, dass die zahlreichen Illegalen in Venedig höchst willkommen sind, während die Verantwortlichen der EU versuchen, sie mit einer rigiden Grenzschutzpolitik von Europas Festland fernzuhalten. Aber für den einträglichen Chartertourismus der Stadt und ihren mobilen Billigsouvenirmarkt sind diese Menschen überlebenswichtig.
Geschichten wie die des Bangladeschers Zillur sind keine Seltenheit, wie die knapp 1.350 Seiten umfassende Dokumentation „Migropolis“ beweist. In zwei dicken Bänden voller Fotografien, Grafiken, Einzelfallstudien und Bewegungsprofilen sowie unzähligen statistischen Daten werden die Bedeutung und der Einfluss von Reiseverkehr und Einwanderung auf die italienische Stadt Venedig beleuchtet. Die Stadt an der Adriaküste ist einerseits der urbane Prototyp der Festung Europa – ein finanzstarkes, nach kapitalistischen Regeln funktionierendes System, vor dessen Toren ein Millionenheer irregulärer Migranten wartet, von denen jeder Einzelne auf ein besseres Leben hofft.
Globales Kaleidoskop
Andererseits ist Venedig mit seinen historischen Gebäuden und Wasserwegen ein einzigartiger Besuchermagnet. Die Stadt ist für Touristen und Migranten ein Sehnsuchtsort sondergleichen. Demzufolge prallen Migration und Tourismus in der norditalienischen Stadt frontal aufeinander. Während die Einwohner Venedigs dem täglichen Ansturm der Besucher und der Einwanderer entfliehen, kulminieren in Venedigs Zentrum die globalisierten Menschenströme in einem einzigartigen Prozess der Verwicklung.
Chinesische Touristen kaufen in der Stadt von irregulär eingewanderten Straßenhändlern billige Kopien „echter“ italienischer Erinnerungsstücke, von denen nur Sekunden vorher das Etikett „Made in China“ entfernt wurde. Amerikaner genießen ihre italienische Pizza und loben die cucina italiana, die Ägypter und Marokkaner zu Billiglöhnen zubereiten. Nur so kann das System der Dumpingpreise aufrechterhalten werden. Solche mit der Globalisierung einhergehenden Prozesse verändern im Hintergrund die Realitäten, um im Vordergrund ein illusionär-romantisches Bild zu bewahren.
Diese Täuschung basiert auf einer kollektiven Wahrnehmung, einem ikonografischen Bild Venedigs, das in der Realität maximal noch ansatzweise Niederschlag findet. Der Ort des täglichen Spektakels ist eine mit Wunschdenken und Idealen aufgefüllte Kulisse. Die Paläste hinter den metergroßen Plakaten der globalen Modemarken sind leer, ihrer Funktion beraubt, zu bloßen Werbeträgern verkommen. Die alteingesessenen italienischen Bäckereien und Restaurants sind längst geschlossen und von den immergleichen Modelabels und Fast-Food-Restaurants ersetzt worden. Der Tourist nimmt das nicht wahr. Er sieht nur, was er sehen will. Die Illusion ist perfekt. Hinter der Kulisse vollziehen sich komplexe Prozesse, die die Differenzen zwischen Arm und Reich zementieren, wenn nicht sogar weiter verstärken. Die Fahrt auf dem Wasser, dem Venedigbesucher ein unverzichtbares Vergnügen, ist für den Wirtschaftsflüchtling aus Afrika das nicht selten tödliche Himmelfahrtskommando, ohne das seine Einreise kaum möglich ist. Der Mobilisierung des Lebens setzt die industrialisierte Welt die Militarisierung der Grenzen entgegen. Statt allen mehr Chancen zu bieten, manifestiert die Globalisierung die bestehenden Unterschiede.
Diese „Eskalation der Globalisierung“ haben Studenten an der Universität für Architektur in Venedig unter der Ägide des deutschen Philosophen Wolfgang Scheppe in einem bisher einzigartigen Forschungsprojekt untersucht. Daraus entstanden ist ein Kaleidoskop der Globalisierung, in dem sie die sozialen, finanz- und wirtschaftspolitischen sowie kulturellen Bewegungen der Stadt festgehalten haben. Scheppes Studenten belegen auf eindrucksvolle Weise die Auslieferung der Stadt an die sie überrollenden Menschenströme.
Die Autoren schweifen in der Tradition des Situationismus durch die unzähligen Aspekte der Zusammenhänge von Kapital, Tourismus und Migration. Das ständige Pendeln zwischen diesen Polen führt keineswegs zu einer Bewegungssoziologie ohne Aussage, sondern zu einer strukturierten Betrachtung ihrer Verbindungen aus den verschiedenen Perspektiven. Essayistisch und fotografisch sind die gesammelten und einfallsreichen aufgearbeiteten statistischen Daten mit Einzelfallinformationen, wie denen von Zillur, verbunden. Derart ist eine kritische Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Gesellschaft entstanden, in der sich die Wirtschaft als verselbstständigte Macht über das Menschliche erhebt und dem Einzelnen die Lebensbedingungen diktiert. Aktuell gibt es keinen besseren Gegenwartsreport, als diesen quantitativ und qualitativ hoch kompakten „Atlas einer globalen Situation“.
■ Wolfgang Scheppe: „Migropolis. Venice/Atlas of a Global Situation“. Hatje Cantz, Stuttgart 2009, 1.344 Seiten, 78 Euro