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Archiv-Artikel

Stalins Sünden

Nach über 40 Jahren zum ersten Mal im Fernsehen: Pasolinis „La rabbia – Der Zorn“ (22.25 Uhr, 3sat)

Im Jahr 1963 fand Pier Paolo Pasolini die Welt zum Weinen. Wo er hinsah, gab es Krisenherde. Ungarn fiel 1956 an den Stalinismus, der Kongo fiel 1961 nach der Ermordung von Lumumba ins Chaos. Aus den Wochenschaubildern dieser Jahre montierte Pasolini in der Auftragsarbeit „La rabbia“ eine politische Meditation. „Ich habe mir aus den Wochenschauen der Fünfzigerjahre einige Sequenzen herausgesucht und sie auf meine Weise aneinander gereiht – die meisten handeln vom Krieg in Algerien und von Papst Johannes, einige wenige und nicht so wichtige von der Rückkehr der italienischen Kriegsgefangenen aus Russland.“

Die Hoffnungen der Entkolonialisierung ruhen für Pasolini auf den „farbigen Menschen“. Der Albtraum des Kalten Kriegs überlagert aber jede Aufbruchstimmung, denn zwischen Ost und West herrscht ein Patt. Das Archivmaterial wird in „La rabbia“ nach dem Prinzip einer Litanei geordnet. Giorgio Bassani, der aus dem Off die Verse spricht, hebt zu immer neuen Seligpreisungen und Flüchen an, während Pasolini dazu immer neues Bildmaterial aufbietet.

Ein „zorniger“ Film zielt natürlich nicht auf rationale Politik. Im Gegenteil geht es Pasolini um einen Ausdruck für die Ohnmacht des Subjekts, das hier in globalen Zusammenhängen gedacht wird, ohne dass zwischen der Krönung von Queen Elizabeth II. in England, dem Besuch von Sophia Loren in einer Fischfabrik, dem Sieg der Revolution in Kuba und dem Weltraumflug von Gagarin die Verbindungslinien genauer gezogen werden.

„La rabbia“, den 3sat heute Abend im Rahmen einer klug ausgewählten kleinen Pasolini-Reihe zum 30. Todestag des italienischen Künstlers und Intellektuellen zeigt, ist auch deswegen so selten zu sehen, weil der Produzent den Film zusammen mit einem Beitrag „von der anderen politischen Seite“ zeigen wollte. Er beauftragte Giovanni Guareschi, den Regisseur von „Don Camillo“. Das Konzept ging nicht auf, und die beiden Montagearbeiten verschwanden in der Versenkung.

Im Kontext von Pasolinis Gesamtwerk ist „La rabbia“ interessant, weil er hier seine Form der Kritik konkret am Schneidetisch ausprobieren konnte (sie läuft vor allem auf die Gegenüberstellung von „Freude“ und „Terror“ hinaus), während seine Analyse in der poetischen Form vielen Anleihen bei der religiösen Rede nimmt: „Stalins Sünden sind unsere Sünden“, verkündet Bassani, aber auch: „Selig sind die Söhne, deren Väter gegen das Kapital gekämpft haben.“

Das Ende von „La rabbia“ führt den Blick des sexuellen Begehrens („Kann es sein, dass Marilyn uns den Weg gewiesen hat?“) mit dem neu gewonnenen Blick aus dem Weltraum zusammen und findet in der Atombombe die Synthese daraus. Bert Rebhandl